Anton Pelinka 1941-2025

Wenige Menschen haben mich in meinem Berufsleben so sehr beeinflusst wie Anton Pelinka. Er war der Grund dafür, dass ich doch nicht Lehrer wurde, sondern Politikwissenschaft inskribierte. In seinen Lehrveranstaltungen habe ich erstmals verstanden, was Politik ist, wie sie funktioniert und wie man sie analysiert.

Als Reporter und später als Moderator habe ich Pelinka unzählige Male im Radio und im Fernsehen interviewt. Bis zuletzt faszinierte mich seine Fähigkeit, komplexe Fragen für jede·n verständlich und immer interessant zu beantworten, ohne dabei zu simplifizieren. Seine eigene Vergangenheit als – hoch talentierter – Journalist war dafür sicher kein Nachteil. Die Idee, Wissenschaft nur für andere Wissenschafter·innen zu betreiben, war ihm nicht nur fremd, sondern erschien ihm völlig absurd.

Jahrzehntelang war Anton Pelinka vermutlich der erste Name, der den allermeisten Menschen in Österreich eingefallen wäre, hätte man sie nach einem Politologen gefragt. Er hat die Disziplin – und über viele Jahre auch die öffentliche Debatte über die Politik im Land – geprägt wie niemand sonst.

Anlässlich seines Todes hat mich DIE ZEIT eingeladen, einen Nachruf auf Pelinka zu schreiben. Mit Erlaubnis der Redaktion veröffentliche ich ihn auch hier.


Niemand hat Österreich besser erklärt

Es muss im März 1985 gewesen sein, als ich den Hörsaal an der Innsbrucker Uni betrat. Am „Tag der offenen Tür“ präsentierten sich die Studienrichtungen den angehenden Maturanten und Maturantinnen. Den Professor, den ich mir anhören wollte, kannte ich aus dem Fernsehen.

In meinem Elternhaus – der Vater Hausmeister, die Mutter Kassiererin im Supermarkt, beide Mitglieder der kleinen ÖVP-Ortsgruppe Innsbruck Olympisches Dorf – galt er als einer der zwei klügsten Menschen in Österreich, auch wenn beide politisch verdächtig waren.

Professor Anton Pelinka und DDr. Günther Nenningmoderierten damals regelmäßig den „Club 2“, eine TV-Gesprächsrunde, die man sich in ihrer Unberechenbarkeit heute kaum mehr vorstellen kann.

Der linke „Doktordoktor“ mit den buschigen Augenbrauen und dem schelmischen „gell?“ am Ende jedes zweiten Satzes war eine Art intellektueller Hallodri. Der eloquente Professor war nüchterner, vermutlich auch kein ÖVPler, aber beeindruckend gescheit, immer ruhig und souverän. Vor allem konnte er fantastisch erklären. Was er sagte, klang stets besonders klug und trotzdem war es immer verständlich.

Anton Pelinka war in den 1980er und 90er Jahren DER Politologe im Land. Er hat die Politikwissenschaft nicht in Österreich eingeführt, aber praktisch im Alleingang populär gemacht. Er war so bekannt wie heute Peter Filzmaier, nur dass neben Filzmaier auch andere Politologinnen und Politologen regelmäßig in Medien erscheinen. Anton Pelinka war ein Solitär.

ERKLÄRER

Jahrzehntelang war er Österreichs führender Public Intellectual, der den Österreichern ihr Land und seine Politik erklärte. Nicht nur in Radio, Fernsehen und Zeitungsinterviews oder im Hörsaal, auch in Diskussionsrunden in Wirtshäusern und Mehrzweckhallen, zu denen er nach langen Uni-Tagen mit der Bahn nach Landeck oder Liezen fuhr – meist ohne Honorar.

Diesen berühmten Mann wollte ich am Tag der offenen Tür der Uni Innsbruck also in echt sehen. „Grundzüge der Politikwissenschaft“ hieß seine Vorlesung. Das 134-seitige Skriptum aus dem Matrixdrucker mit grünem Deckblatt besitze ich bis heute.

Die Lehrveranstaltung war so interessant und der Vortragende so beeindruckend, dass diese 90 Minuten mein Leben veränderten. Noch im Hörsaal entschied ich mich, im Herbst nicht Wirtschaftspädagogik zu inskribieren, wie ich es seit Jahren vorhatte, sondern Politikwissenschaft. Und danach würde ich nicht Buchhaltung an einer Handelsakademie unterrichten – sondern Anton Pelinkas Nachfolger werden.

Das sollte sich gut ausgehen: Pelinka war Mitte vierzig. Ich würde den Magister machen und bei ihm promovieren. Als sein Assistent würde ich mich habilitieren und irgendwann seinen Lehrstuhl übernehmen – und den „Club 2“, die Interviews und das Renommee. Ich hatte einen Plan.

LEHRER

Im Herbst 1985 begann mein Studium am „Pelinka-Institut“. Das hieß so, weil es Pelinka zehn Jahre zuvor gegründet hatte. Mit 33 Jahren wurde er nach seiner Habilitation in Salzburg und nach zwei Jahren in Essen und Berlin auf den ersten Lehrstuhl für Politikwissenschaft der Uni Innsbruck berufen.

Aber es sollte noch zehn Jahre dauern, bis Politik in Innsbruck eine vollwertige Studienrichtung war und nicht nur ein Nebenfach. Wir waren der erste reguläre Jahrgang: etwa 70 Studierende, jeder kannte jeden am Institut und alle bewunderten den Professor.

Als Uni-Lehrer war er brillant: Die Vorlesungen klar strukturiert, jeder Satz druckreif und die letzte Viertelstunde für eine offene Diskussion über aktuelle Politik reserviert. Man hätte dafür auch Eintritt bezahlt.

Pelinka selbst war promovierter Jurist. Politikwissenschaft hatte er erst danach am Wiener Institut für Höhere Studien gelernt. Der berühmte Sozialforscher Paul Lazarsfeld hatte dort einen eigenen Lehrgang initiiert, um die in den USA längst etablierte Disziplin nach Österreich zu bringen. Pelinka gehörte zu den ersten Absolventen.

QUIZ-KÖNIG

Aufgewachsen war er als Sohn einer katholisch-konservativen Familie mit tschechischen und deutschen Wurzeln in Wien. Sein erstes politisches Engagement als „Helfer der Volkspartei“ beschrieb er in seiner Autobiografie „Nach der Windstille“ (2009) so: „Plakate der anderen Parteien wurden beschmiert, beschriftet, mit Symbolen der Volkspartei versehen.“ Das war im Nationalratswahlkampf 1949, Wahlhelfer Toni war acht.

Toni besuchte katholische Schulen und war Ministrant. Als Student wurde er für einige Wochen im ganzen Land bekannt: Mehrmals hintereinander gewann er als Kandidat das „Quiz 21“, eine extrem populäre Fernsehshow. Da Live-Sendungen damals nicht aufgezeichnet wurden, existiert von der Siegesserie leider keine Sekunde im ORF-Archiv.

1966 wurde der frisch graduierte Politologe Journalist. In der katholischen Wochenzeitung „Die Furche“ übernahm der 25-Jährige den Schreibtisch des Historikers Friedrich Heer. Doch der liberale „linkskatholische“ Kurs von Chefredakteur Kurt Skalnik prallte rasch auf den Widerstand der katholischen Nomenklatura. Skalnik wurde gefeuert, Pelinka kündigte.

ANTIFASCHIST

Zuvor hatte er in einem Kommentar die Verhaftung des rechtsextremen Aktivisten Norbert Burger gefordert. Burger ließ die „Furche“ beschlagnahmen und klagte Pelinka. Ohne Erfolg. Schon damals zeigte sich das wichtigste Motiv im politischen Weltbild des Politologen: die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, Antisemitismus und den Feinden der Demokratie. „Die zentrale Erfahrung in meiner politischen Bewusstwerdung war das Begreifen des Holocaust“, schrieb er später. Von seiner katholisch-konservativen Herkunft hatte er sich als Mittelschüler emanzipiert und war an der Uni zum „parteilosen Linken“ geworden.

Mit Kreiskys Reformen sympathisierte er und engagierte sich, ohne je Parteimitglied zu werden, in SPÖ-Arbeitskreisen – bis zur Wiesenthal-Affäre, in der er den Kanzler scharf kritisierte. Die Weigerung, 1979 einen Wahlaufruf von Professoren für die SPÖ zu unterschreiben, und die folgenden Repressionen im Uni-Betrieb führten zum Bruch mit der Partei.

Nach der Kündigung bei der „Furche“ hatte Pelinka Angebote des ORF und der SPÖ- „Arbeiterzeitung“ abgelehnt und war vom Journalismus zurück in die Wissenschaft gewechselt. Nebenbei schrieb er noch für ein aufsässiges Monatsblatt des Kirchen-Rebellen Adolf Holl und für Günther Nennings„Neues Forum“.

Als Politologe wurde sein zentrales Thema neben dem politischen System Österreichs, über das er zahllose Bücher und Aufsätze verfasste, die Theorie der Demokratie. 1974 erschien sein Schlüsselwerk „Dynamische Demokratie“, mehr als 30 weitere Bücher folgten.

CITOYEN

Pelinkas Produktivität und Disziplin als Autor waren in Uni-Kreisen legendär. Trotz der Menge an Texten versäumte er keine Abgabefrist. Rätselhaft bleibt, wie der Politik-Analytiker noch Zeit fand, praktisch Politik zu machen, als Institutsvorstand, in Gremiensitzungen, als Dekan – und in zivilgesellschaftlichen Initiativen.

Er gehörte zu den Gründern der Gesellschaft für Politikwissenschaft, der Gesellschaft für Politische Aufklärung, des Instituts für Konfliktforschung, des Peter-Ustinov-Instituts für Vorurteilsforschung und des Wiesenthal-Instituts für Holocaust-Studien. Er vertrat Österreich in der EU-Kommission gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und engagierte sich im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands ebenso wie als Präsident der Tiroler Aids-Hilfe. Sein ganzes berufliches Leben lang war Anton Pelinka Aufklärer, Volksbildner und Citoyen.

Die Politikwissenschaft hatte für ihn „auch den Charakter einer Oppositionswissenschaft. Sie darf den Mächtigen nicht angenehm sein.“ Ihre wichtigste Aufgabe sei es jedoch, Politik zu beobachten, zu beschreiben und zu analysieren.

AUFKLÄRER

Regelmäßig tat er das in Interviews für in- und ausländische Medien, oft mehrmals die Woche. Zwei dieser Gespräche führten rund um die Nationalratswahl 1999 in eine persönliche Krise. In der RAI und auf CNN hatte der Politologe dem freiheitlichen Parteichef Jörg Haider eine Nähe zum Nationalsozialismus attestiert. Haider klagte, Pelinka wurde verurteilt. Die Einschränkung der Meinungsfreiheit, aber auch der zeitliche und finanzielle Aufwand frustrierten ihn tief.

Ein Lichtblick war ein offener Brief an den Bundespräsidenten, unterzeichnet von mehr als 150 Uni-Professoren aus aller Welt, die sich mit Pelinka solidarisierten. Die internationale Unterstützung dokumentierte das Prestige, das er sich auch als Gastprofessor in den USA (New Orleans, Harvard, Stanford, Ann Arbor), in New Delhi, Brüssel und Jerusalem erworben hatte.

2001 wurde er in letzter Instanz freigesprochen, doch im ORF nahm der damalige TV-Chefredakteur die Prozesse zum Anlass, den bisherigen Dauer-Gast für Interviews zur Innenpolitik de facto zu „sperren“: Wer mit Haider vor Gericht stehe, könne schwerlich die FPÖ objektiv analysieren. Es war ein sichtbarer Bruch in Pelinkas jahrzehntelanger Bildschirm-Präsenz. An seiner Stelle wurde immer häufiger Peter Filzmaier eingeladen, der an Pelinkas Institut politische Bildung lehrte.

ABSCHIED

Mein Plan für die Nachfolge Pelinkas war derweil gescheitert. Ich hatte zu lange studiert. Zwölf Semester wären die Mindestzeit bis zum Doktorat gewesen. Ich brauchte – neben meinem Beruf als Journalist – mehr als dreimal so lang. 20 Jahre nach der „Grundzüge“-Vorlesung wurde ich 2005 promoviert. Die Urkunde überreichte mir Anton Pelinka, damals Dekan. Ein Zufall, aber ein schöner.

Im Jahr darauf verließ der Professor für viele überraschend „sein“ Innsbrucker Institut: „Ich hatte lange genug Jüngerendie eine oder andere Sicht verstellt.“ Nach 31 Jahren wollte er „noch einmal etwas Neues wagen“ und akzeptierte ein Angebot der Central European University in Budapest. Auch dort blieb er unermüdlich produktiv. Sein letztes großes Buch „Faschismus? Zur Beliebigkeit eines politischen Begriffs“ erschien 2022.

Im selben Jahr wurde die Krebserkrankung diagnostiziert, an der Anton Pelinka nun 83-jährig nach schweren letzten Wochen gestorben ist. Er hinterlässt seine Ehefrau Marta Pelinka-Marková, eine Tochter und ein herausragendes Lebenswerk.

Niemand hat Österreich besser erklärt.

Pingpong, Pool & Politik

Die Idee kam Peter Rabl im Sommer 1981. Der spätere PROFIL- und KURIER-Chefredakteur leitete damals das ORF-Wochenmagazin „Politik am Freitag“ und ahnte vor seiner Sendung ein bedrohliches innenpolitisches Sommerloch. Also beschloss er, drei Ausgaben im August mit ausführlichen Interviews zu füllen – mit den Chefs der drei Parlamentsparteien. Weil es ja Hochsommer war, ganz entspannt im Freien, in ihrem privaten Umfeld. Die ORF-Sommergespräche waren geboren – und die Premiere ist bis heute legendär.

Das erste Gespräch mit dem Chef der kleinsten Partei, mit Norbert Steger von der FPÖ, fand in dessen Ferienhaus in Kärnten statt. Es war brüllend heiß und im Vorfeld wurde dem ORF-Team empfohlen, doch Badesachen mitzubringen. Es gäbe einen Pool, in dem man sich nach getaner Arbeit erfrischen könnte.

Aber noch während des Interviews hatte Rabl – so erzählt er es 44 Jahre später – spontan die Idee, das Gespräch doch im Pool zu Ende zu führen. Norbert Steger stieg darauf ein und in seine Badehose, hechtete vor laufenden Kameras ins Becken und beantwortete dem Interviewer im Wasser stehend noch ein paar Fragen. Stegers Pressesprecherin, später eine bekannte ORF-Journalistin, saß im Bikini am Beckenrand, Kamera- und Tonmann arbeiteten oben ohne.

Norbert Steger und Peter Rabl mit FPÖ-Mitarbeiter·innen im Pool, rundherum das ORF-Team
Screenshot

Niemand kann sich mehr an die letzten Fragen und Antworten dieses Sommergesprächs erinnern – aber die Bilder haben Fernsehgeschichte gemacht und wurden in den Jahrzehnten seither nur ein einziges Mal (fast) übertroffen. Eine Woche später …

Pingpong, Pool & Politik weiterlesen

X ist ein rechtsfreier Raum

Warum es praktisch unmöglich ist, anonyme Hass-Postings auf X zu bekämpfen: Die Gesetze sind zu schwach, X ignoriert sie, zuständige Behörden verweigern die Arbeit. Ein Erfahrungsbericht in zehn Schritten.


Stellen wir uns vor, eine Tageszeitung würde täglich mehrere Leserbriefe veröffentlichen, in denen etwa unter einem Bild der Regierungsspitze steht:

„Diese widerlich stinkenden Schweine … ÖSTERREICH wird von korrupten, kriminellen und saudummen ARSCHLÖCHER:INNEN reGIERt!“

Und unter einem Meuchelfoto der Sozialministerin:

„Im abstauben und veruntreuen von Steuergeld ist die fette rote linksversiffte NAZI-Schlampe wie man sieht, bestens ausgebildet!“

Neben einem Artikel über den Innenminister:

„NÖ-VOLLTROTTEL? Der Kasperl ist ein korrupter, krimineller und verlogener Schwurbler.“

Über einem Foto des früheren deutschen Gesundheitsministers:

 „Du widerwärtiger korrupter und verlogener MASSENMÖRDER solltest besser dein linksversifftes LÜGENmaul halten. Auf DICH bösartige Kreatur wartet NÜRNBERG 2.0 und viele Jahre KÄFIG!“

X ist ein rechtsfreier Raum weiterlesen

Was ist Journalismus?

Diese Frage hat mir Podcaster Andreas Sator für seine großartige Gesprächsreihe “Erklär mir die Welt” gestellt – und wir haben uns eine Dreiviertelstunde lang über viele verschiedene Aspekte dieses großen Themas unterhalten:

  • Was unterscheidet Journalismus von anderen Inhalten, die so ähnlich aussehen?
  • Warum glaube ich, dass ein “Leserreporter” kein Journalist ist und Wikileaks kein Journalismus?
  • Weshalb darf sich trotzdem jeder Journalist nennen?
  • Welche Themen kommen in die Medien und warum?
  • Gibt es Themen, die alle Medien verschweigen?
  • Weshalb sind Nachrichten oft so negativ?
  • Was ist “konstruktiver Journalismus” – und warum gibts nicht mehr davon?
  • Was unterscheidet Boulevard- von Qualitätsmedien?
  • Warum sind Fake News heute schwerer zu erkennen als früher?
  • Wie gelingt es trotzdem?
  • Welchen Informationen kann man vertrauen?

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen

Aufgenommen haben wir dieses Gespräch schon vergangenen Herbst – gemeinsam mit einem weiteren zum Thema Interviews. Der Anlass dafür war ein neues Journalismus-Lehrbuch, das ich gemeinsam mit drei fabelhaften Kolleg·innen herausgegeben habe.

An einem Detail merkt man, dass unser Gespräch nicht tagesaktuell ist: Andreas fragt mich am Ende nach meinen Medien-Tipps und ich empfehle u.a. die Washington Post, die sehr lange eine fantastische Zeitung (und Website) war. Leider ist ihr Eigentümer, Amazon-Gründer Jeff Bezos, aber seit der Wiederwahl von Donald Trump dabei, dieses legendäre Medium zu ruinieren. Ich würde es heute also nicht mehr groß empfehlen, sondern stattdessen das exzellente Magazin The Atlantic.

Wie alle “Erklär mir die Welt”-Gespräche gibt es auch dieses nicht nur auf YouTube zu sehen, sondern auch auf allen üblichen Plattformen als Podcast zu hören.

Die Sache mit dem “Auftrag”

ÖVP und SPÖ sind nun offenbar dabei, sich doch noch auf eine gemeinsame Koalition zu einigen. Es wäre erst die zweite Regierung seit 1945, die ohne einen offiziellen Auftrag des Bundespräsidenten zur Regierungsbildung entsteht.

Dieser Auftrag ist ja eine interessante Sache.

In der Bundesverfassung existiert er nämlich nicht. Dort steht über die Bildung der Regierung nur ein einziger Satz: „Der Bundeskanzler und auf seinen Vorschlag die übrigen Mitglieder der Bundesregierung werden vom Bundespräsidenten ernannt.“

Dass der Präsident den späteren Bundeskanzler oder die Kanzlerin “mit der Regierungsbildung beauftragt“  ist nirgendwo vorgesehen, sondern lediglich eine politische Tradition, eine „Usance“. In den letzten Wochen sind gleich zwei Politiker an dieser Tradition gescheitert – Karl Nehammer und Herbert Kickl. Aber das ist wirklich selten. Davor ist das in achtzig Jahren Zweiter Republik und nach 24 Nationalratswahlen auch nur zwei Mal passiert.

Das erste Mal ist schon sehr lange her – und es ist ein besonders interessanter Fall, weil er zeigt, wie einflussreich der Bundespräsident bei einer Regierungsbildung sein kann. Oder zumindest sein konnte.

Die Sache mit dem “Auftrag” weiterlesen

Wer wird Österreich regieren? Keine Ahnung

Ich geb´s auf und melde mich hiermit offiziell aus dem Prognose-Business ab. Ich kann es offensichtlich nicht.

Dabei dachte ich, dass ich nach mehr als 30 Jahren journalistischer Erfahrung in der heimischen Politik die Rahmenbedingungen, Interessen und Akteur·innen halbwegs qualifiziert einschätzen kann. Deshalb hatte ich vor der Nationalratswahl hier im Blog ausführlich erklärt, warum der nächste Bundeskanzler mit größter Wahrscheinlichkeit wieder Karl Nehammer heißen wird. Und nach dem spektakulären U-Turn der ÖVP Anfang Jänner, dass es — immerhin: “Stand heute” — Herbert Kickl sein wird.

I rest my case.

Ganz offensichtlich habe ich die Rolle von Rationalität und Logik in der österreichischen Politik maßlos überschätzt und als Trost bleibt mir nur, dass es dem Professor — Peter Filzmaier nämlich, auf dessen Urteil ich sehr vertraue — sehr ähnlich geht.

Fakt ist: Nach jeder Logik hätten die “Dreiko”-Verhandlungen zu einer gemeinsamen Regierung führen müssen, weil jede der drei Parteien regieren wollte und jede durch das Scheitern ihre Position verschlechtert hat. Für SPÖ und Neos hieß es weiter Opposition, für die ÖVP Juniorpartner statt Kanzlerpartei. Und selbst diese Option blieb ihr nur, weil sie über Nacht ihr zentrales Wahlversprechen — keine Regierung mit Kickl — in die Luft gesprengt und ihren Parteichef geopfert hat. Ich hatte das nicht erwartet.

Aber woran ist nun Blau-Schwarz gescheitert?

Wer wird Österreich regieren? Keine Ahnung weiterlesen

50 Jahre ZiB2

Am 3. Februar 2025 feiert die ZiB2 ihren 50. Geburtstag — und ist damit das älteste tägliche Nachrichtenmagazin im deutschsprachigen Fernsehen. Die ARD-Tagesthemen und das heute-journal des ZDF starteten erst Anfang 1978, also knapp drei Jahre später, und das Schweizer Pendant 10 vor 10 überhaupt erst 1990.

Der Falter nennt die ZiB2 in seiner jüngsten Ausgabe „Österreichs wichtigste Nachrichtensendung“ und das aktuelle TVmedia schreibt: “1975 war sie noch ein Experiment, heute ist die ZiB2 das spannendste News-Format im TV.“  Was uns naturgemäß freut.

Zu Beginn war die Sendung tatsächlich ein Experiment — ich habe zum 40. Geburtstag hier im Blog ein bisschen was zur Entstehung und zur Geschichte der Sendung geschrieben, auch mit historischen Bildern. (Und hier noch ein Text über Robert Hochner, der die ZiB2 als Moderator von 1979 bis zu seinem schrecklich frühen Tod im Jahr 2001 geprägt hat wie niemand sonst.)


Falter-Kolumne zur ZiB2


Aber in keinem Jahrzehnt der ZiB2-Geschichte ist so viel passiert wie in den letzten zehn Jahren, seit unserem 40. Geburtstag: Flüchtlingsströme, IS-Terror, Brexit, Trump, Pandemie, Wirtschaftskrise, Ukraine-Krieg, Energiekrise, Rekordinflation, der 7. Oktober in Israel, Gaza-Krieg, Trumps Comeback — und über allem die Klimakrise.

In Österreich hieß 2015 der Kanzler noch Faymann, bald Kern, Kurz, Bierlein, nochmal Kurz, Schallenberg, Nehammer, wieder Schallenberg und demnächst wohl Kickl. 2016 wurde der Bundespräsident gleich drei Mal gewählt, 2017 auf Ibiza zu viel getrunken, 2018 der Verfassungsschutz gestürmt, mehrere Jahre lang tippte ein Spitzenbeamter rund 300.000 Chat-Nachrichten in sein Handy und ein vermeintlicher Immobilien-Milliardär ging spektakulär bankrott.

Doch auch in der ZiB2 hat sich sehr viel getan: Vom Sendungsteam, das ich zum 40er beschrieben habe, sind zehn Jahre später noch genau zwei Personen in der Redaktion: Chef vom Dienst Johann „Ulli“ Ullmann und ich. Alle anderen aktuellen Kolleg·innen sind später zu uns gestoßen, von Redaktionsleiter Christoph Varga (2018) über die Moderator·innen Martin Thür, Margit Laufer und Marie-Claire Zimmermann (als Rückkehrerin — „MC“ hat schon von 2007 bis 2010 mit mir moderiert) bis zu den Reporter/Producer·innen Peter Babutzky, Sinan Ersek, Madeleine Gromann, Patrick Gruska, Harald Jungreuthmayr und Regina Pöll. Zum 50er habe ich für das Team letzte Woche T-Shirts besorgt, mit einem Slogan, den ich von der amerikanischen Daily Show ausgeliehen hatte: „THE BEST FU#@ING NEWS TEAM EVER“. Weil‘s wahr ist.

50 Jahre ZiB2 weiterlesen

„Die Zerstörung des ORF beginnt“

Seit gestern verhandeln die FPÖ und die ÖVP über die Medienpolitik einer künftigen blau-schwarzen Koalition — und die Freiheitlichen reden dabei ganz offen über ihre Pläne für den ORF.  Sie wollen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk de facto verstaatlichen und dabei Programm und Personal massiv reduzieren.

Der ORF soll künftig aus dem staatlichen Budget finanziert werden — und wesentlich weniger Geld bekommen als bisher. Der freiheitliche Stiftungsrat Westenthaler hat auf oe24.tv bereits von „500 Millionen“ gesprochen (aktuell hat der ORF ein Gesamtbudget von knapp 1,1 Milliarden, knapp 700 Millionen davon kommen aus dem Rundfunkbeitrag).

Den neuen Rundfunkbeitrag will die FPÖ jedenfalls abschaffen, weil das Loch im aktuellen Budget aber schon viel zu groß ist, wird das wohl vorerst verschoben. (Hier habe ich mal ausführlich erklärt, warum es sehr sinnvoll ist, den ORF aus Beiträgen aller Menschen im Land zu finanzieren und nicht aus dem Staatsbudget.)

Aber FPÖ-Mediensprecher Hafenecker fordert vom ORF sofortige Einsparungen von 15 Prozent. Ob er damit eine Reduktion des ORF-Beitrags in dieser Höhe meint oder des ORF-Gesamtbudgets (inkl. Werbung und anderer Erträge), hat er bisher nicht erklärt. In einem Fall ginge es um ein Minus von ca. 100 Millionen Euro pro Jahr, im anderen wären es gut 150 Millionen weniger.

Das Ziel der FPÖ ist jedenfalls ein „Grundfunk“, ein drastisch verkleinerter, vom Staat finanzierter Rundfunk — oder wie die Redakteursvertreter·innen des ORF heute warnen: Es geht letztlich darum, den Rundfunk „dem Gutdünken der Regierung zu unterwerfen“.

In einem sehr ausführlichen offenen Brief (siehe unten) erklärt die gewählte Redaktionsvertretung aller ORF-Journalist·innen heute, was da gerade auf dem Spiel steht: Das größte Medienunternehmen Österreichs, das in Radio, Fernsehen, online und via Social Media jeden Tag mehr als 80 Prozent und jede Woche mehr als 90 Prozent aller Menschen in Österreich mit Information, Kultur, Bildung, Sport und Unterhaltung versorgt.

„Die Zerstörung des ORF beginnt“ weiterlesen

Wer wird Österreich regieren? Neuer Versuch

Eine Woche vor der Nationalratswahl im September habe ich hier im Blog sehr ausführlich — und wie ich überzeugt war, sehr logisch — erklärt, dass nach der Wahl der neue Bundeskanzler so heißen wird wie der alte, Karl Nehammer also.

Das war ganz offensichtlich falsch.

Mit Stand heute Abend wird der nächste Bundeskanzler Herbert Kickl heißen, als erster freiheitlicher Regierungschef der Zweiten Republik und als Chef einer blau-schwarzen Koalition.

Das habe ich nicht nur für sehr unwahrscheinlich gehalten, sondern de facto für ausgeschlossen. War ich schlecht informiert? Hatte ich etwas Wesentliches übersehen? Habe ich unlogisch argumentiert?

Ich glaube nicht. Ich bin nur davon ausgegangen, dass die FPÖ bei der Wahl keine absolute Mehrheit erringen wird (das stimmte, es waren 28,85 Prozent). Und ich bin davon ausgegangen, dass die einzigen beiden Parteien, die der FPÖ theoretisch eine Regierungsmehrheit beschaffen könnten — also ÖVP und SPÖ —, ihr zentrales Wahlversprechen halten werden, nämlich Herbert Kickl nicht zum Kanzler zu machen.

Das war im Fall der ÖVP offensichtlich naiv.

Wer wird Österreich regieren? Neuer Versuch weiterlesen

Hat sich der #eXit gelohnt?

Vor sechs Wochen, am 17. November, bin ich gemeinsam mit etlichen anderen österreichischen Journalist·innen übersiedelt — von Twitter/X, wo ich über 15 Jahre lang quasi zuhause war, auf Bluesky. Seit gestern folgen mir auf Bluesky mehr als 50.000 Menschen, also eine ganze Menge (vielen Dank!). Auf X hatte ich zuletzt allerdings 640.000 Follower und den mit Abstand größten Account im Land. Hat sich der #eXit trotzdem gelohnt?

Ja, das hat er. Und ich habe ihn keinen Tag bereut, auch wenn ich auf Bluesky noch nicht ganz im Himmel bin.

Es war jedenfalls richtig, X als aktiver User zu verlassen. Das zeigt sich mit jedem neuen Tweet von Elon Musk. Ich schreibe nicht für Russia Today, warum sollte ich der Propaganda-Plattform eines offen rechtsradikalen Politikers — und das ist Musk mittlerweile — meinen Content schenken? Weshalb ich glaube, dass Musk mein langjähriges Lieblingsmedium Twitter kaputt gemacht hat, habe ich am 17. November ausführlich begründet.

Ich habe damals auch erklärt, warum ich meinen X-Account trotzdem bisher nicht lösche. Mal abgesehen davon, dass ich verhindern will, dass wer anderer unter meinem Namen twittert, brauche ich die Plattform — leider — nach wie vor beruflich. Mir wäre lieber, es wäre nicht so, aber in Breaking News-Nachrichtenlagen wie dem Umsturz in Syrien oder dem Flugzeugabsturz in Kasachstan ist X als superschnelle Info-Quelle Bluesky noch überlegen. Das ist für die Arbeit in einer News-Redaktion, in der ein paar Minuten Info-Vorsprung oft sehr hilfreich sind, nicht unwesentlich. Ich finde dort auch relevante Expert·innen, die (noch) nicht auf Bluesky erreichbar sind. D.h., ich nütze X noch passiv, habe meinen Account aber stillgelegt.

Hat sich der #eXit gelohnt? weiterlesen

Armin Wolf ist Journalist und TV-Moderator. Sein Blog befasst sich v.a. mit Medien und Politik.

Armin Wolf