Sitzungssaal ORF-Stiftungsrat

Verfassungswidrig – na, und?

Am Donnerstag dieser Woche, am 17. März, treffen sich die 35 ORF-Stiftungsräte noch ein letztes Mal. Ihre vierjährige Funktionsperiode läuft aus, der Stiftungsrat wird bis Mai neu bestellt. Nach einer Gesetzesbestimmung, die offensichtlich gegen die Verfassung verstößt.

Ich weiß das erst seit wenigen Tagen, seit ich auf einen Aufsatz von Christoph Grabenwarter gestoßen bin, dem Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs. Grabenwarter ist auch ein renommierter Experte für Rundfunkrecht und als solcher hat er in einem Standardwerk zum deutschen Grundgesetz einen Kommentar über „Rundfunkfreiheit“ geschrieben.*

In der umfangreichen Analyse geht es grundsätzlich um Deutschland, wo das Höchstgericht 2014 in einem historischen Urteil die „Staatsferne“ von ARD und ZDF festgeschrieben hat. Aber Grabenwarter behandelt auch die Rundfunkfreiheit in der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Gemäß Artikel 10 der EMRK müsse die „Vielfalt im Rundfunk“ gewährleistet sein, erklärt er. Deshalb sei zu verhindern, dass „eine gewichtige ökonomische oder politische Gruppe oder der Staat eine dominante Position über eine Rundfunkanstalt … einnimmt“. Und konkret schreibt Grabenwarter über die Leitungs- und Aufsichtsorgane der Sender: „Herrscht in den Organen eine zu große Mehrheit von Vertretern der Regierungspartei(en), wird Art. 10 EMRK verletzt.“ (S. 240, siehe unten.)

Die EMRK ist in Österreich Teil der Verfassung. Und im ORF-Stiftungsrat gibt es – wie ich gleich zeigen werde – genau das: Eine quasi automatische Mehrheit von Vertretern der Regierungsparteien.

Das mächtige Aufsichtsorgan des ORF, das u.a. die Geschäftsführung bestellt, besteht aus 35 Mitgliedern. Laut ORF-Gesetz werden sie folgendermaßen nominiert:

– Neun durch die Bundesregierung
– Neun von den Bundesländern
– Sechs von den Parteien im Nationalrat
– Sechs aus dem ORF-Publikumsrat
– Fünf durch den Betriebsrat

Logischerweise werden die neun Stiftungsräte der Bundesregierung von den jeweiligen Regierungsparteien ausgewählt. Außerdem – da die Regierungskoalition die Mehrheit im Nationalrat stellt – mindestens drei der sechs Partei-Stiftungsräte. Und alle sechs Vertreter aus dem Publikumsrat. Diese werden zwar formell im Publikumsrat nominiert, aber der Bundeskanzler darf laut Gesetz praktisch freihändig 17 der 31 Publikumsräte bestellen. Diese Mehrheit bestimmt dann die sechs Abgesandten für den Stiftungsrat. (Seit das ORF-Gesetz gilt, wurden diese sechs Sitze stets halbe-halbe zwischen den jeweiligen Koalitionsparteien aufgeteilt.)

9 + 3 + 6 = 18

Die absolute Mehrheit der 35 Stiftungsräte wird also laut ORF-Gesetz durch die jeweiligen Regierungsparteien bestimmt. In der Praxis werden auch noch mehrere der neun Bundesländer-Vertreter von Landeshauptleuten nominiert, deren Partei auch im Bund regiert. Nur auf die fünf Betriebsrats-Mandate hat die Regierung nicht mal theoretischen Einfluss.

Die so bestellten Stiftungsräte sind laut Gesetz unabhängig und weisungsfrei. Und trotzdem organisieren sie sich in sogenannten „Freundeskreisen“ der Parteien, also in politischen Fraktionen wie im Parlament. Die „Freundeskreise“ tagen regelmäßig mit den Mediensprecher·innen und Klubobleuten „ihrer“ Parteien, sie stimmen in wichtigen Fragen praktisch immer nach Fraktionslinie ab und das grundsätzlich öffentlich. (So bleibt das Stimmverhalten stets kontrollierbar. Geheime Abstimmungen im Stiftungsrat sind laut Gesetz verboten, nachdem es bei vertraulichen Abstimmungen im alten „ORF-Kuratorium“ immer wieder „Abweichler“ gegeben hatte.) **

Seit 2002, seit das aktuelle ORF-Gesetz gilt, verfügen die „Freundeskreise“ der jeweiligen Regierungsparteien durchgehend über eine erdrückende Mehrheit.

Derzeit stellt sogar ein „Freundeskreis“ alleine die absolute Mehrheit, nämlich jener der ÖVP (mit sieben der neun Regierungs-Mandate, sechs der neun Länder-Sitze, drei der sechs Publikumsräte und zwei der sechs Partei-Mandate). Dazu kommt die Koalition noch auf drei grüne Stiftungsräte, allerdings nur noch bis Donnerstag. Danach wird sich der grüne „Freundeskreis“ verdoppeln.

Weil sich auch der Publikumsrat neu formiert, werden aus den drei FPÖ-Vertretern, die noch von Türkis-Blau 2018 in den Stiftungsrat geschickt wurden, künftig drei Grüne. Die Regierungsübermacht wächst damit von derzeit 21 auf 24 von 35.

Eine Zweidrittel-Mehrheit

„Herrscht in den Organen eine zu große Mehrheit von Vertretern der Regierungspartei(en), wird Art. 10 EMRK verletzt.“, stellt Verfassungsexperte Grabenwarter fest. Das ist im ORF-Stiftungsrat ganz eindeutig so – und zwar nicht durch einen historischen Zufall, sondern immer, aufgrund des Gesetzes, das den Bestellvorgang regelt.


Aussschnitt Grabenwarter


Die EMRK steht im Verfassungsrang. Die Zusammensetzung des Stiftungsrats verletzt demnach die österreichische Verfassung. Anders lässt sich der Präsident des Verfassungsgerichts hier nicht interpretieren.

Und nun entsteht ein bizarres Problem.

Man kann gegen diese Verfassungsverletzung in der Praxis kaum vorgehen. Es existiert keine realistische Chance für den ORF, den Redakteursrat oder für ORF-Kund·innen, die verfassungswidrige Bestellung vor den VfGH zu bringen. Dafür müsste nämlich jemand in seinen konkreten Rechten verletzt werden und das durch mehrere Instanzen bekämpfen. Doch die eklatante Missachtung der Unabhängigkeit des Rundfunks durch den Bestellmodus für sein oberstes Organ verletzt niemanden konkret in seinen Rechten.

Die einzige Möglichkeit, dieses Gesetz durch das Höchstgericht beurteilen zu lassen, wäre ein Normenkontroll-Verfahren. Ein solches kann aber nur eine Landesregierung verlangen oder ein Drittel des Nationalrats. Der übergroße Einfluss der Politik auf den ORF müsste also ausgerechnet von Politiker·innen bekämpft werden. Die daran – wenig überraschend – wenig Interesse haben.

Bis Mai muss der Stiftungsrat neu bestellt werden. Wie schon 2002, 2006, 2010, 2014 und 2018 wird das nach einem Gesetz passieren, dass offenkundig verfassungswidrig ist. Im nächsten Stiftungsrat wird die Mehrheit der Regierung noch größer sein als bisher. Dass dadurch die Menschenrechtskonvention und die Verfassung verletzt werden, wird weiterhin niemanden interessieren. Vielleicht wird ja mal ein Rundfunkjurist einen Aufsatz darüber schreiben.


* Grabenwarter, Christoph: Kommentierung des Art 5 GG (Rundfunkfreiheit, Filmfreiheit und Informationsfreiheit). In Grundgesetz-Kommentar. Hrsg. Maunz/Dürig. München, 2018: 121-324 (online nicht verfügbar)
** Die kurze Passage zur Arbeitsweise der „Freundeskreise“ wurde am 14. März ergänzt.


Nachtrag: Reaktionen zu diesem Beitrag habe ich hier zusammengefasst.