„Wir müssen Social Media mit Journalismus infiltrieren“

Gestern war ich eingeladen, beim “Mediengipfel” der 30. Münchner Medientage einen Vortrag zu halten. Das vorgegebene Thema: “Welche Medien wollen wir morgen in unserem Leben?” – Hier mein Text zum Nachlesen:


Vor drei Wochen hat die Washington Post eine Donald-Trump-Wählerin porträtiert. Diese Frau ist felsenfest überzeugt davon, dass Barack Obama ein schwuler Moslem aus Kenia ist, dass Michelle Obama vor ihrer Geschlechtsumwandlung ein Mann namens Michael war und dass die beiden Töchter der Obamas einer anderen Familie entführt und zwangsadoptiert wurden, schließlich gäbe es kein einziges Foto, das eine schwangere Michelle Obama zeigt. Klar, sie war ja ein Mann.

Diese Frau glaubt übrigens auch, dass Hillary Clinton mehrere Menschen umbringen ließ und dass der konservative Höchstrichter Antonio Scalia von einer Prostituierten ermordet wurde – im Auftrag des Weißen Hauses.

Das Erschreckende an dieser Geschichte ist, dass die 52 Jahre alte Frau, die all das erzählt, keineswegs eine ignorante, semi-literate Informationsverweigerin ist, sondern jemand, der sich den ganzen Tag im Internet bewegt, von einem Blog zum nächsten, viele Stunden Cable News schaut und sich weit überdurchschnittlich für Politik und für die Welt interessiert.

„Unser Nachrichten-Ökosystem hat sich in den letzten fünf Jahren dramatischer verändert als in den 500 Jahren davor.“

„Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“, hat Niklas Luhmann geschrieben. 1995. Nicht nur im vorigen Jahrhundert, sondern in einem anderen Zeitalter. Denn wie die amerikanische Medienwissenschafterin Emily Bell richtig sagt: „Unser Nachrichten-Ökosystem hat sich in den letzten fünf Jahren dramatischer verändert als in den 500 Jahren davor.“

Heute wissen sehr viele Menschen das, was sie über die Welt wissen, nicht mehr aus den Massenmedien, sondern aus den Sozialen Medien, aus social media. Aus ihren Facebook- und Twitter-Feeds und aus einer unübersehbaren Vielzahl von Blogs und Websites, die oft aussehen wie das, was wir herkömmlich unter Medien verstehen, die aber doch etwas völlig anderes sind.

„Pressefreiheit ist die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten“, hat der Journalist Paul Sethe 1965 geschrieben. Und kein Satz könnte heute falscher sein. Heute ist Pressefreiheit die Freiheit von über drei Milliarden Menschen mit Online-Zugang, ihre Meinung ins Netz zu stellen.

Pressefreiheit ist die Freiheit von über 3 Milliarden Menschen mit Internet-Zugang, ihre Meinung ins Netz zu stellen.

Früher mussten Sie, um gehört zu werden, in ein professionelles Medium kommen oder – was sehr schwierig und vor allem sehr teuer war – ein eigenes Medium gründen. Heute können Sie aus ihrem Wohnzimmer einen YouTube-Kanal betreiben, eine technisch einwandfreie Live-Übertragung oder einen Podcast senden, eine Website vollschreiben und ein Dutzend Social Media-Kanäle bespielen.

Da es praktisch keine Eintrittsbarrieren mehr gibt, außer einem Laptop mit Online-Zugang oder einem Smartphone, besteht das Systemproblem heute nicht mehr im Angebot – sondern in der Nachfrage.

Sie können Ihr eigenes Medium betreiben – aber Millionen andere auch. Und die Aufmerksamkeit von Lesern, Seherinnen, Hörerinnen oder Usern, um die es ja eigentlich geht, ist nicht beliebig vermehrbar. Trotz der Explosion an Medienangeboten ist die individuelle Medien-Nutzungszeit in Deutschland in den letzten zehn Jahren nicht mehr gestiegen. Viel mehr als durchschnittlich knapp zehn Stunden am Tag gehen sich offenbar nicht mehr aus, wenn man auch noch ein analoges Leben hat, mit Job, Familie, Freunden, Hobbies und Hund.

Das heißt, wer gehört werden will, muss in dieser gewaltigen Kakophonie auffallen. Aber womit geht das?

“Wenn jemand eine Nachricht nicht teilt, ist sie im Kern keine Nachricht.“

Zum Beispiel indem Sie lauter sind als andere, schriller, schräger, aufregender oder extremer. Gawker war lange eine hocherfolgreiche Gossip-Website, spezialisiert auf virale Scoops. Und einer ihrer bekanntesten Redakteure, Neetzan Zimmermann, beschreibt das Erfolgsrezept so: „Heute ist es nicht mehr wichtig, ob eine Geschichte wahr ist. Das einzige das zählt ist, ob sie wer anklickt. Wenn jemand eine Nachricht nicht teilt, ist sie im Kern keine Nachricht.“ Dieses Problem betrifft aber nicht alle „Nachrichten“ gleichermaßen.

Sie alle kennen aus der Musik die Unterscheidung zwischen E-Musik und U-Musik. Die möchte ich mir – obwohl sie zu Recht umstritten ist – kurz ausborgen und auch im Journalismus unterscheiden: Zwischen ernstem Journalismus und Unterhaltungs-Journalismus.

Der U-Journalismus hat keine Krise, ganz im Gegenteil. Er floriert. Jede Woche kommt irgendein neues Eskapismus-Medium auf den Markt: vom Rindfleisch-Magazin bis zur Veganer-Podcast, vom Mal-Heft für Erwachsene bis zur x-ten Promi-Klatsch-Website.

E-Journalismus, U-Journalismus, K-Journalismus

Wobei der U-Journalismus in zwei Erscheinungsformen auftritt – als die beiden K: Kommerz-Journalismus und Kampagnen-Journalismus. Der Kommerz-Journalismus ist das eben Beschriebene: Eskapismus-Medien als Plattformen für Anzeigenverkauf oder Content Marketing, also das, was früher – etwas uneleganter – „Schleichwerbung“ hieß.

Kampagnen-Journalismus hingegen hat neben oder anstatt kommerzieller Ziele vor allem eine politische Agenda. Das ist das, was in den USA Fox News macht, der Drudge Report, breitbart.com, infowars.com oder Rush Limbaugh im Radio. Und was in Deutschland der Kopp-Verlag versucht, KenFM, epochtimes oder Herr Ulfkotte. Und in Österreich Websites wie unzensuriert.at. In Wahrheit ist das natürlich kein Journalismus, sondern hat auch einen alten, nach wie vor sehr passenden Namen, nämlich „Propaganda“.

Aber warum floriert das? Weil es genau das nicht tut, was E-Journalismus tut, also ernster, seriöser Journalismus. Der fordert sein Publikum heraus, konfrontiert es mit anderen Ansichten, unterschiedlichen Standpunkten, mit Argumenten und Widerspruch, mit Kontext und Komplexität und mit Themen, nach denen man nicht unbedingt sucht, weil man noch gar nicht weiß, dass einen das interessieren könnte.

„Endlich. Einer der so denkt wie ich.“

U-Journalismus macht es dem Publikum bequem – entweder durch Ablenkung oder durch Nach-dem-Mund-Reden; durch den permanenten Appell ans Ressentiment und die Bestätigung von Vorurteilen. „Endlich. Einer der so denkt wie ich“, so lautet der Titel der Washington Post-Geschichte über die Trump-Wählerin. Es ist ein Zitat von ihr.

Dem US-Senator Patrick Moynihan wird das berühmte Diktum zugeschrieben: „Sie haben jedes Recht auf Ihre eigene Meinung. Aber Sie haben kein Recht auf Ihre eigenen Fakten.“ Dieses Zitat klingt heute ähnlich alt, wie jenes von Luhman über die Weltaneignung via Massenmedien. Denn seit ein paar Monaten sprechen wir ja alle von der postfaktischen Gesellschaft – und tatsächlich ist nicht völlig undenkbar, dass die mächtigste Demokratie der Welt jemanden zum Präsidenten wählt, von dessen öffentlichen Aussagen mehr als 70 Prozent nachweislich faktisch falsch sind.

Der US-Journalist Tim Dickinson hat kürzlich getwittert „Trump – das ist ein Gefühl. Wenn Sie dieses Gefühl haben, spielen Fakten keine Rolle mehr.“

Aber was heißt das für den E-Journalismus – eben jenen Journalismus, der mich interessiert? Die zentrale Aufgabe von E-Journalismus ist es eben nicht, Menschen zu unterhalten, abzulenken oder aufzuhetzen – sondern sie aufzuklären. E-Journalismus möchte seinem Publikum helfen, qualifizierter am demokratischen Diskurs teilzunehmen, so hat es die BBC mal für sich definiert.

“Journalismus ist Unterscheidung: Zwischen wahr und unwahr,
wichtig und unwichtig,
Sinn und Unsinn.“

Der legendäre ORF-Generalintendant Gerd Bacher hat einmal gesagt: „Journalismus ist Unterscheidung. Die Unterscheidung zwischen wahr und unwahr, wichtig und unwichtig, Sinn und Unsinn.“ Auch dieser Satz ist schon älter, aber nicht überholt. Ganz im Gegenteil, ich halte ihn heute für wichtiger denn je.

Diese Unterscheidung zwischen wahr und unwahr, wichtig und unwichtig, Sinn und Unsinn ist noch immer die zentrale Aufgabe von Journalismus, auch im Zeitalter seiner digitalen Reproduzierbarkeit und Simulation.

Fakten sind natürlich nicht obsolet – denn dass wir uns über die Existenz einer gemeinsamen Wirklichkeit einig sind, ist ja die Grundvoraussetzung dafür, dass wir über diese Wirklichkeit überhaupt sinnvoll streiten können. Zwischen 2×2=4 und 2×2=5 gibt es keine journalistische Ausgewogenheit. 2×2=5 ist keine „gefühlte Wahrheit“ sondern Unsinn.

Nicht alles ist wahr, nicht alles ist wichtig und nicht alles ist sinnvoll. Unserem Publikum bei dieser Einordnung zu helfen, das ist unsere eigentliche Aufgabe. „Wenn Sie die New York Times kaufen, kaufen Sie keine Neuigkeiten – sie kaufen Urteilsvermögen“, hat deren Herausgeber Arthur Sulzberger mal gesagt.

“Sie kaufen keine Neuigkeiten.
Sie kaufen Urteilsvermögen.”

Journalisten sind keine Stenographen. Die reine Wiedergabe von Er sagt-Sie sagt-Protokollen ist nicht der Kern unseres Jobs. Das können Sie automatisieren. (Und das passiert ja auch längst. Die Nachrichtenagentur AP verschickt mittlerweile jedes Jahr zehntausende Meldungen, die von Robotern geschrieben wurden, vor allem Börsen- und Sportberichte.)

Der Job von JournalistInnen ist es, nachzuprüfen, ob er oder sie übertreiben, die Fakten verdrehen oder lügen. Zu hinterfragen, warum er oder sie das möglicherweise tun, und damit unserem Publikum ein qualifizierteres Urteil über ihn oder sie zu ermöglichen.

Informationen zu verifizieren – das war schon immer die Aufgabe von Journalisten. Heute ist es aber auch unser Job, sogenannte Informationen zu falsifizieren. Die vielen Gerüchte, Behauptungen und Geschichten, die vor allem via Social Media auftauchen und sich rasant verbreiten, weil sie so reißerisch klingen und so großartig ins Vorurteil passen. Diesen Geschichten nachzugehen, ist ein elementarer Teil unseres Jobs geworden.

“The best obtainable version
of the truth.”

„Journalismus ist der Versuch der Wahrheit, so nahe wie nur irgendwie möglich zu kommen“„the best obtainable version of the truth“, predigt Watergate-Legende Carl Bernstein seit Jahrzehnten. Medien sind Instanzen der Wirklichkeitsbeschreibung. Natürlich auch – und das ist ganz wesentlich –, wenn die Wirklichkeit, die wir finden, unseren eigenen Vorurteilen, Vorlieben oder politischen Einstellungen widerspricht. Genau das unterscheidet Journalismus ja von Propaganda: der offene Blick, die ehrliche Neugier, die unvoreingenommene Recherche. Die Skepsis nach allen Seiten. Und die Fähigkeit zur Einordnung.

Das sind nun alles sehr alte journalistische Tugenden, die scheinbar gar nicht zu den topaktuellen Podiums-Themen und hippen buzzwords dieser Medientage passen – doch diese Tugenden werden inmitten der medialen Dauerbewirtschaftung von Emotionen und Ressentiments nicht weniger wichtig, sondern wichtiger.

Aber die tollste Recherche und die wichtigste Enthüllung bleiben sinnlos, wenn sie niemand wahrnimmt. Und da haben wir tatsächlich eine neue Herausforderung.

Nicht ohne Grund habe ich in den letzten Minuten immer wieder von unserem Publikum gesprochen. Wir sind keine Schriftsteller. Journalisten arbeiten nicht, um sich künstlerisch zu verwirklichen, jedenfalls nicht primär. Medien sind so etwas wie die Infrastruktur einer Demokratie. Journalismus ist eine Dienstleistung an der Gesellschaft. Und diese Dienstleistung – Aufklärung – setzt Publikum voraus.

Filterblasen aufstechen und Social Media-Plattformen hacken.

Wenn jedoch immer weniger Menschen traditionelle Medien verfolgen, dann müssen möglicherweise wir Medien die Menschen verfolgen.

Wir müssen also dorthin, wo das Publikum ist. Und wenn viele, vor allem junge Menschen, auf Social Media sind, dann müssen wir auch dorthin. Wir dürfen die Aufmerksamkeit und die Facebook-Feeds nicht nur Katzenvideos, Listicles und lustigen GiFs überlassen. Wir müssen, wo immer es geht, die algorithmus-produzierten Filterblasen aufstechen und die Newsfeeds mit ordentlichem Journalismus infiltrieren.

Miriam Meckel hat kürzlich mit ihrer Diagnose für einiges Aufsehen gesorgt, via Social Media könnte man „die Demokratie hacken“. Wenn wir mal davon ausgehen, dass Social Media nicht so schnell verschwinden werden – und davon gehe ich aus –, brauchen wir da eine Gegenstrategie. Und vielleicht muss diese Gegenstrategie der Gegenangriff sein. Und wir Journalisten, vor allem wir E-Journalisten, müssen Social Media-Plattformen hacken.

Das ist nicht leicht, denn eine Geschichte mit dem Titel „17 Fehler, die Du beim ersten Date machen wirst“ wird es auf Facebook immer leichter haben als „17 falsche Vorurteile über CETA“. Aber man kann Geschichten auch über komplexe Themen so schreiben, vertonen und verfilmen, dass sie auf Social Media funktionieren – obwohl sie die Nutzer gescheiter machen.

Das Publikum zu seriöser
Information verführen.

Wenn wir unser Publikum zu unserem Journalismus nicht mehr defacto verpflichten können, weil es die Monopol-Lokalzeitung und den Monopol-Rundfunk längst nicht mehr gibt – dann müssen wir es eben zu seriösem Journalismus verführen.

Es gibt dabei natürlich ein offensichtliches strategisches Problem: Selbstverständlich machen wir Plattformen wie Facebook oder YouTube, die einen Großteil der Online-Nutzung und einen noch größeren Teil der Werbeausgaben aufsaugen, noch größer und noch mächtiger, wenn wir sie intensiv bespielen. Das ist tatsächlich ein Dilemma, für das ich auch keine unmittelbare Lösung weiß.

Mein Vorschlag wäre trotzdem, dass wir Social Media nützen, um in die Echokammern ihrer Abermillionen Nutzer hineinzubrüllen oder auch hineinzuflüstern, dass es da draußen auch noch was anderes gibt als ulkigen Unsinn und paranoide Propaganda. Und dass wir ihre Nutzer dazu verführen, sich näher anzuschauen, was wir E-Journalisten so treiben. Letztlich idealerweise in Formen, Formaten und auf Plattformen, bei denen sie auch noch dafür bezahlen.

Aber letztlich ist der beste Journalismus der Welt sinnlos und wertlos, wenn er kein Publikum erreicht. Und wenn das Publikum nicht mehr zu uns kommt, müssen eben wir zum Publikum gehen. Auch wenn‘s weh tut.