Ich mit ca. 6 Jahren

Von „Ohren-Ziehern“ und vom „Übers Knie legen“

In der heutigen PRESSE schildert ein Redakteur unter dem Titel „Wer Strafe nicht vollzieht, wird unglaubwürdig“, wie er seinen dreijährigen, offenbar entzückenden Sohn erzieht. Und warum er ihn gelegentlich „übers Knie legt“, ihn an den Ohren zieht und ihm immer wieder damit droht. Und dass er „totale Gewaltfreiheit in der Erziehung“ für einen „infantil-romantischen, militant-pazifistischen Irrglauben“ hält.

Ich dachte, mir dreht es beim Lesen dieses Textes den Magen um.

Ich weiß, wovon ich rede. Ich wurde von meinen Eltern nicht gelegentlich „übers Knie gelegt“ oder an den Ohren gezogen. Sondern ich wurde regelmäßig geschlagen. Von meinem Vater mit der Hand, zuletzt mit 16. Von meiner Mutter – als ich so alt war wie der Sohn des PRESSE-Autors – mit einem Teppichpracker. Später, nachdem ich mit sechs oder sieben eine Matchbox-Autobahn zu Weihnachten bekommen hatte, mit einer Rennbahnschiene aus Plastik.

Meinen Eltern kam nicht im Affekt „die Hand aus“, sondern mein Vater war der Meinung: „Kleine Kinder muss man erziehen wie kleine Hunde, mit denen kann man auch nicht argumentieren“. Und eine „Watschn“, eine „Kopfnuss“ oder eine „Tracht Prügel“ wären wesentlich sinnvollere Sanktionen als tagelanges „Fernsehverbot“ oder „Hausarrest“, wo man nach einem Tag nicht mehr wüsste, wofür die Strafe überhaupt war.

Das hat – aus Sicht meiner Eltern – ganz gut funktioniert. Ich war ein braves Kind mit tadellosen Manieren, kam gut durch die Schule und wurde nicht drogensüchtig. Und dass aus mir ein halbwegs ordentlicher und erfolgreicher Erwachsener wurde, war für meine Mutter zeitlebens der Beleg, „dass es ja nicht so falsch gewesen sein kann“.

Mein Vater sah das später anders, nachdem wir lange und oft darüber diskutiert hatten, wie ich meine Kindheit erlebt hatte: Dass mein zentrales Gefühl meinem Vater gegenüber als Fünf- oder Achtjähriger nicht Liebe, Zuneigung, Vertrauen oder Respekt war sondern Angst – und als Teenager Verachtung, weil er sich nicht anders zu helfen wusste. Das hat ihn sehr beschäftigt und ihm wurde irgendwann klar, dass da wohl doch was falsch gewesen ist.

Ich habe mich mit meinen Eltern (die leider beide verstorben sind) vor vielen Jahren ausgesöhnt und ich bin ihnen für sehr, sehr vieles dankbar. Ich weiß auch, dass sie als Kinder noch viel übler geschlagen wurden als ich. Aber ich wusste immer: Sollte ich selbst je Kinder haben, werde ich sie hoffentlich nicht schlagen, sie weder an den Ohren noch an den Haaren ziehen und sie nicht bewusst erniedrigen.

Ich wusste nicht, wie man Kinder erzieht, aber ich wusste, dass ich das nicht wiederholen will, auch nicht in einer egal wie abgeschwächten Form, mit körperlicher Gewalt „in so seltenen wie homöopathischen Dosen, als Ultima Ratio und an Stellen, die nicht zu persönlich sind“, wie es der PRESSE-Autor heute beschreibt.

Nun habe ich keine leiblichen Kinder, ich lebe aber seit über zehn Jahren mit den wunderbaren Kindern meiner Frau zusammen. Das Mädchen (eigentlich: die junge Frau) ist heute 23, der Bub ist 14. In diesen zehn Jahren habe ich kein einziges Mal erlebt, dass eine/r von beiden anders berührt worden wäre als liebevoll. Beide sind großartige, selbständige, aufrechte, empathische junge Menschen mit blendenden Manieren.Die „Rücksichtslosigkeit“ und die „negativen Schwingungen“, die „gewaltfrei erzogene“ Kinder laut dem PRESSE-Autor „verbreiten“, habe ich bei beiden in zehn Jahren nie gesehen.

Natürlich kann man Kinder ohne Gewalt erziehen. Auch wenn sie manchmal nerven, nicht tun, was man möchte, mühsam und schwierig sind. Und selbstverständlich brauchen Kinder Grenzen. Aber nein, man muss Dreijährige nicht „demonstrativ-inszeniert“ in eine „blöde Lage bringen“ und dabei auch noch „lachen“. Und Menschen, die ihre Kinder ohne Gewalt erziehen, als „infantil-romantische“ Traumtänzer verhöhnen.

Ich bin übrigens sicher, dass der PRESSE-Autor ehrlich davon überzeugt ist, das Beste für sein Kind zu wollen und zu tun. Meine Eltern waren das auch. Mein Vater war Hausmeister, meine Mutter Verkäuferin. Es waren die 1960er und 70er Jahre. Die „g‘sunde Watschn“ war damals durchaus üblich und sogar gesetzlich erlaubt. Kinder, die nicht (zumindest gelegentlich) geschlagen wurden, waren in meinem Freundeskreis die Ausnahme.

Der PRESSE-Autor schreibt, dass er „die ‚gesunde Watsche‘ ablehne, ja!“ – Ins Gesicht ist ihm „zu persönlich“, immerhin. 2014 könnte man auch weiter sein. Aber vielleicht braucht er noch ein paar Jahre – bis ihm sein Sohn vielleicht irgendwann mal erzählt, wie sich das anfühlte mit den „Ohrenziehern“, dem „Übers Knie legen“ und den Drohungen.

PS: Das Thema Kindererziehung ist ein Schwerpunkt in der heutigen PRESSE. Die anderen Texte sind glücklicherweise anders.

PPS: Ich bin in der Öffentlichkeit sehr zurückhaltend, was mein Privatleben angeht. Das ist mir sehr wichtig. Diesen Text habe ich jetzt geschrieben, weil mir dieser PRESSE-Artikel mit seiner Rechtfertigung von Gewalt gegen Kinder (egal wie „homöopathisch“) wirklich nahe gegangen ist. Und weil ich erklären möchte, warum ich weiß, dass das falsch ist. Aber ich habe jetzt lange überlegt, ob ich diesen Text tatsächlich posten soll. Weil ich Angst davor habe, dass das, was ich hier über meine Kindheit erzähle, in einem reißerischen Artikel in einer Zeitung wie „Österreich“ oder „heute“ auftaucht. Das fände ich eine gigantische Sauerei. Es ist ein Text auf meiner Seite hier für die Menschen, die hier mitlesen. Sonst für niemanden.

PPPS: Soeben (1.12., 10h33) hat die PRESSE diesen Text auf ihre Website gestellt:
„’Wer Strafe nicht vollzieht, wird unglaubwürdig‘ … (‚Presse am Sonntag‘ 30. 11.), in dem Gewaltanwendung als ‚ultima ratio‘ in der Kindererziehung bezeichnet wird, entspricht weder der Blattlinie dieser Zeitung noch zeitgemäßer Pädagogik. Daher – und das ist eine traurige Premiere – distanzieren wir uns vom Inhalt dieses Artikels. Unsere interne Kontrolle hat am vergangenen Samstag versagt. Wir bedauern dies.“
Die Chefredaktion der „Presse“


NACHTRAG vom 4.12.2014:

Ich habe lange darüber nachgedacht am Sonntag Abend, ob ich diesen Text über meine Kindheit hier veröffentlichen soll. Aber ich hätte nie damit gerechnet, dass er derartige Reaktionen auslösen würde. Das Posting wurde tausende Male geteilt und (mit den Kommentaren zu den Kommentaren) an die 3.000 Mal kommentiert.

Ich habe sämtliche Kommentare gelesen – und was mich dabei am meisten berührt hat: wie viele Menschen als Kinder ähnliche oder noch schlimmere Erfahrungen mit Gewalt gemacht haben – und wie viele noch Jahrzehnte später darunter leiden.

Und wirklich erschüttert war ich, wie viele Kolleginnen und Kollegen, die ich seit ewig kenne, sich per Mail gemeldet und mir von ihrer Kindheit erzählt haben. Das war deshalb so erschütternd, weil unfassbar arge Geschichten dabei waren und weil viele Betroffene auch aus ganz anderen Milieus stammen als ich.

Ich hatte – naiv – vermutet, dass körperliche Gewalt gegen Kinder da vielleicht auch schon in den 1970er Jahren weniger verbreitet gewesen wäre. Aber ganz offensichtlich waren wir heute 40-, 50jährigen noch eine ziemlich geprügelte Generation – und nicht nur (noch viel schlimmer) unsere Eltern.

Aber die allermeisten Reaktionen haben mir vor allem auch gezeigt, dass wir heute viel weiter sind. Dass es eben nicht mehr allgemein akzeptiert ist, Kinder zu schlagen oder sonstwie „körperlich zu züchtigen“. Das waren sicher 90 % der Kommentare (auch wenn sie wohl nicht ganz repräsentativ für das ganze Land sind).

Aber einige Diskussionen unter meinem Posting waren auch erschreckend. Weil es da auch Kommentare gab wie diesen: „Wir haben als Kinder alle paar auf die Leuchter bekommen, wenn wir was angestellt haben und es hat uns nicht geschadet. […] Das soll nicht heißen, dass Misshandlungen was Gutes sind, aber ab und an eine ordentliche Schelle wirkt Wunder.“

Woher wissen Menschen eigentlich, dass Ihnen die „Watschen“ ihrer Kindheit „nicht geschadet haben“? Ich würde mal sagen: Wenn sie nun auch ihre Kinder schlagen, reicht das als „Schaden“ schon völlig aus. Man schlägt Kinder nicht. Punkt.
(Es ist übrigens auch seit Jahrzehnten gesetzlich verboten.)

Etliche KollegInnen haben ebenfalls Texte zu dem Thema veröffentlicht – besonders lesenswert fand ich jene von Doris Knecht und Michael Hufnagl.

Und bei allen, die mir hier auf Facebook geschrieben habe, möchte ich mich für ihre Gedanken, Erlebnisse und auch den Zuspruch bedanken. Sorry, dass ich nur selten geantwortet habe, aber 3.000 Kommentare haben mich einfach überfordert.
In einem PS zu meinem sehr persönlichen Posting hatte ich von meiner Angst geschrieben, dass es in Boulevardzeitungen reißerisch verwurstet werden könnte. Das ist nicht passiert, was mich sehr positiv überrascht hat. Auch dafür möchte ich mich bedanken.

Es gab aber auch ziemlich schräge Reaktionen. PROFIL schreibt in seiner morgigen Ausgabe, mein FB-Posting sei eine „Fatwa“ gewesen und auf meiner FB-Seite beschimpft mich ein Journalist, ich würde hier eine „geifernde Jagdgesellschaft“ anführen. Ich finde das jenseitig.

Noch jenseitiger finde ich allerdings, dass der PRESSE-Redakteur, von dem der vieldiskutierte Text stammt, angeblich Morddrohungen erhält. Das ist verrückt. Der Mann hat einen Text geschrieben, für den sich die PRESSE und er selbst mittlerweile entschuldigt haben. Die Diskussion über das Thema halte ich für wirklich wichtig, aber nicht die Diskussion über den Autor.

Tatsächlich können Debatten auf Social Media-Plattformen ähnlich entgleiten wie an Stammtischen – nur in einer viel größeren Dimension. Und im Gegensatz zum Stammtisch-Gespött bekommt der Betroffene den „Shitstorm“ auf FB oder Twitter meistens auch unmittelbar mit. Das kann extrem belastend sein und völlig übergriffig werden. Ich kann mir vorstellen, dass das in diesem Fall so ist – und das tut mir sehr leid. Auch der „Shitstorm“ kann eine Form von Gewalt sein.
Ich wünsche dem PRESSE-Autor, seiner Frau und seinem Sohn alles Gute!