Als ich in den 1970er Jahren ein Kind in Innsbruck war, verlief der 24. Dezember bei uns zuhause jedes Jahr gleich.
Erstmal war er viel zu lang. Ausgerechnet dieser Tag war der längste im ganzen Jahr, mindestens doppelt so lang wie jeder andere. Obwohl schon Weihnachtsferien waren, wachte ich vor Aufregung noch früher auf als sonst – aber es gab nichts zu tun. Keine Schule, nichts zu lernen und weil ja das Christkind für die Geschenke zuständig war, musste auch nichts besorgt oder verpackt werden. Als einzige Beschäftigung blieb, die Zeit bis zum Heiligen Abend totzuschlagen.
Ich hielt das als Kind für ziemlich gemein. Hätte Maria ihr Kind nicht früher auf die Welt bringen können? Am Heiligen Morgen? Oder zumindest am Heiligen Nachmittag? Am frühen Heiligen Nachmittag!
Nie war Spielen so langweilig wie am 24. Dezember. Als schon ein ganzer Tag vergangen war, gab es erst Mittagessen. Erst danach zumindest ein wenig Erleichterung: Aus dem Wohnzimmer trugen meine Eltern den unendlich schweren Schwarzweiß-Röhrenfernseher in die Küche und wuchteten ihn auf den Kühlschrank.
Den restlichen Nachmittag verbrachten meine Schwester und ich wie angenagelt auf der Küchenbank, abwechselnd auf Bildschirm und Küchenuhr starrend. Öfter auf die Küchenuhr, weil wir ständig Angst hatten, sie sei stehengeblieben.
Im Wohnzimmer war derweil das Christkind an der Arbeit. Es musste in unserem Hochhaus ganz oben im 12. Stock begonnen haben und bei uns im Erdgeschoß schon wirklich müde sein, denn es arbeitete unfassbar langsam. Und so zog und zog und zog sich der Nachmittag, bis wir uns endlich umziehen durften und wussten: Jetzt wird es dann ernst.
Punkt 18 Uhr klingelte es leise, wir drückten mit roten Wangen die Wohnzimmertür auf, hinter der erstaunlicherweise immer mein Vater stand (er musste also das Christkind gesehen haben!) und hinter ihm ein prachtvoller Christbaum voller Lametta, Kugeln, Kerzen und sprühender Sternspritzer.
Und aus dem Lautsprecher des heiligen Plattenspielers meines Vaters (Plattenspieler! Vinyl! Single!) kam nicht „Stille Nacht“ sondern Bing Crosby:
„I’m dreaming of a white Christmas … Just like the ones I used to know…“
Solange die Sternspritzer sprühten und Bing Crosby sang, mussten wir andächtig stehen bleiben. Erst dann ging es an die Geschenke und an den Schokoschmuck vom Baum.
Jedes Jahr war das so. Auch als ich schon den Verdacht und später die Gewissheit hatte, dass mein Vater das Christkind vielleicht doch nicht kannte, sondern ihm gemeinsam mit meiner Mutter die Arbeit abgenommen hatte. Aber jeden 24. Dezember um die gleiche Zeit klingelte es und als die Tür aufging, träumte Bing Crosby von weißen Weihnachten.
Bis heute gehört dieses Lied für mich zum 24. Dezember – mindestens so sehr wie ein geschmückter Baum. Weil das Christkind bei uns zuhause, nach getaner Arbeit und bevor es weiterflog, noch die Sternspritzer angezündet und Bing Crosby aufgelegt hat. Jedes Jahr. Punkt 18 Uhr.
Ich wünsche Ihnen allen frohe Weihnachten & ein friedliches neues Jahr!
Ihr Armin Wolf