Es war wahrscheinlich der spannungsgeladenste Moment des letzten TV-Duells, als Ingrid Thurnher dem FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer einen Ausschnitt aus dem ORF-Report vorspielte, in dem er von seiner Israelreise im Juli 2014 berichtete: „Ich war auch in Israel, Yad Vashem, und war dort mitten in einem Terrorangriff. Neben mir wurde eine Frau erschossen.“
Ein dramatisches Erlebnis, von dem Hofer zuletzt immer wieder erzählt hat, etwa am 12. März in der PRESSE: „Ich habe in Israel erlebt, wie es wirklich ist. Als ich auf dem Tempelberg war, ist zehn Meter neben mir eine Frau erschossen worden, weil sie versucht hat, mit Handgranaten und Maschinenpistolen betende Menschen zu töten.“
Und wortgleich in einem Fragebogen für die evangelische Website eawien.at: „Als ich auf dem Tempelberg war, ist zehn Meter neben mir eine Frau erschossen worden, weil sie versucht hat, mit Handgranaten und Maschinenpistolen betende Menschen zu töten.“
Und schließlich am Mittwoch in der ZiB2: „Ich habe Israel am Höhepunkt der Kämpfe besucht. […] Und ich habe dort auch Fürchterliches erlebt. Ich bin mitten in einen Terrorakt hineingekommen. Neben mir wurde eine Frau erschossen.“
Es gibt über einen derartigen Terrorakt während Hofers Aufenthalt keinen einzigen israelischen oder internationalen Medienbericht.
Ich wollte Norbert Hofer deshalb schon am Mittwoch danach befragen, aber wir hatten dazu noch kein Statement aus Israel. Erst Donnerstag Nachmittag konnte ORF-Korrespondent Ben Segenreich den Sprecher der israelischen Polizei Micky Rosenfeld interviewen, der zu Hofers Schilderungen wörtlich in die Kamera sagt:
„Ende Juli 2014 gab es keinerlei Zwischenfall oder Angriff auf dem Tempelberg, definitiv nicht mit Granaten, definitiv nicht mit irgendwelchen Waffen. Es wurde keine Frau in Jerusalem Ende Juli 2014 getötet, soweit wir das wissen, kein Terrorangriff in der Altstadt, wir können das nicht bestätigen.“
(Im Original: “At the End of July 2014 there was no incident or attack whatsoever at the Temple Mount, definitely not using grenades, definitely not using weapons whatsoever. […] There was no woman, as far as we know, that was killed in Jerusalem at the End of July 2014, no terrorist attack here in the old city […], we have no confirmation of that.” )
Dieses Statement hat Ingrid Thurnher Hofer im TV-Duell vorgespielt und gefragt: „Kann es sein, dass sie da irgendwas verwechseln?“ Hofer wirkt betroffen und empört: „Da hört sich bei mir das Verständnis auf. Wenn mir versucht wird jetzt vorzuwerfen, ich hätte die Unwahrheit gesagt, dann werde ich mich auch wirklich wehren.“
Und er schildert die Szene nochmal: Eine Frau habe versucht, durch „einen Zaun, ein Tor“ am Tempelberg zu kommen: „Ich stand auf der einen Seite, sie stand auf der anderen Seite und sie wollte dort hinein. Und sie hatte mit Handgranaten und Maschinenpistolen und wurde dort erschossen“. Er habe auch Fotos davon mit.
Das passt nun gar nicht zu dem, was Polizeisprecher Rosenfeld kurz vorher im Interview gesagt hatte: Keine tote Frau, kein Terrorakt, keine Granaten, keine Waffen.
Aber was stimmt nun?
Tatsächlich hat Hofers Pressesprecher im ORF-Zentrum drei Fotos mit, die er noch während der TV-Debatte Journalisten zeigt – man sieht darauf eine Absperrung und einen offensichtlichen Polizeieinsatz. Überlassen will die FPÖ dem ORF die Fotos nicht, aber die ZIB24 filmt sie ab (Video unten). FPÖ-Chef Strache wettert in einer Presseaussendung von einem „unfassbaren ORF-Skandal“ und einer „perfiden und widerlichen Wahlmanipulation“.
Noch während des TV-Duells posten Zuseher auf Twitter Links zu Berichten aus israelischen Medien vom Juli 2014, u.a. aus der JERUSALEM POST mit dem Titel: „Police shoot woman at Western Wall who fails to heed warnings to stop” also: “Polizei schießt an der Klagemauer auf eine Frau, die Warnungen anzuhalten, nicht befolgt“. Das scheint Hofer zu bestätigen. Die Klagemauer liegt am Fuße des Tempelbergs.
Laut JP-Bericht, hat eine in Decken gehüllte Frau beim Sicherheits-Check zur Klagemauer nicht auf Stopp-Rufe der Polizei reagiert. Daraufhin wurde ein Warnschuss abgegeben, weil die Frau aber weiterging, schoss ihr ein Polizist ins Bein. Sie wurde „leicht verletzt“ ins Spital gebracht.
HAARETZ ergänzt noch, dass die Frau einer extremen jüdischen Sekte angehörte, und deshalb dick in Decken gehüllt war. Und die TIMES OF ISRAEL hat auch ein kurzes Handy-Video von dem Einsatz, auf dem man aber außer Polizisten vor der Klagemauer nicht viel erkennt. Ganz offensichtlich hat auch Hofers Reisegruppe diesen Polizeieinsatz fotografiert.
Bei unserem ZiB2-Interview am Mittwoch hat Norbert Hofer dieses Erlebnis von sich aus noch einmal angesprochen: „Ich bin mitten in einen Terrorakt hineingekommen. Neben mir wurde eine Frau erschossen.“
Ich bin nicht weiter darauf eingegangen – sondern habe ihn zu seinem Besuch in der Knesset befrag. Das wurde schnell recht kontroversiell und letztlich sagte Hofer: „Alles, was Sie jetzt versuchen, zu sagen: ‚Sie waren gar nicht dort‘ [in der Knesset, Anm.]. Das ist schon etwas schräg und eigenartig. Denn ich war dort. […] Vielleicht sagen Sie dann noch: Beim Terrorakt ist niemand zu Tode gekommen.“
Stimmt. Es ist niemand zu Tode gekommen, es gab auch keinen Terrorakt, keine Handgranten und keine Maschinenpistolen. Das Statement der israelischen Polizei dem ORF gegenüber ist – soweit sich das bisher recherchieren lässt – faktisch korrekt.
Was an Norbert Hofers Aussage offensichtlich stimmt: Er wurde am Fuße des Tempelbergs Augenzeuge eines Polizeieinsatzes, bei dem auf eine verdächtige Frau geschossen wurde. Wirklich nichts, was man jemandem wünscht.
Aus der unbewaffneten, letztlich leichtverletzten Frau wurde allerdings in Interviews eineinhalb Jahre später eine Terroristin, die zehn Meter neben Norbert Hofer erschossen wurde, als sie mit Handgranaten und Maschinenpistolen auf betende Menschen losgehen wollte.
Ein ORF-Skandal ist das nicht.
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Nachtrag vom 21.3.2017:
Die FPÖ hat sich wegen des TV-Duells bei der zuständigen Medienbehörde KommAustria beschwert. Am 16. März 2017 wurde diese Beschwerde in allen Aspekten abgewiesen: Der ORF habe seine Recherchen „mit bestmöglicher Genauigkeit und Sorgfalt durchgeführt“ und weder die journalistische Sorgfaltspflicht noch das Objektivitätsgebot verletzt. (Hier die Presseaussendung der KommAustria und hier der gesamte Bescheid.)
Ein interessantes Detail aus dem acht Monate langen Beweisverfahren der Behörde: Der von der FPÖ nominierte Augenzeuge, Hofers Reisebegleiter David Lasar, sagte unter Wahrheitspflicht aus, dass die FPÖ-Reisegruppe am Tempelberg weder Schüsse gehört noch eine verletzte oder tote Frau gesehen hat. Tatsächlich gesehen hat sie – aus einiger Entfernung – eine Polizeisperre, ihr Dolmetscher habe dort mit einer Sicherheitskraft gesprochen und offenbar falsche Informationen bekommen.
Besonders dramatisch war das Erlebnis also offenbar nicht. Wohl auch eine Erklärung, warum in der Presseaussendung der FPÖ nach der Israel-Reise kein Wort davon zu lesen war. Eineinhalb Jahre später wurde daraus ein Terroranschlag mit einer schwerbewaffneten Toten zehn Meter neben Norbert Hofer.
(Dieser Text erschien ursprünglich am 20. Mai 2016 auf meiner Facebook-Seite. Die damals zitierten Videos in der TVthek sind aufgrund der gesetzlichen 7-Tage-Frist leider nicht mehr online verfügbar.)