Wem sind die vieldiskutierten „Anlandeplattformen“ für Flüchtlinge eingefallen? Sebastian Kurz will es nicht gewesen sein. Oder doch?
Ich muss gestehen, ich war ein wenig erstaunt gestern Abend im Interview mit Kanzler Kurz nach dem EU-Gipfel in Salzburg. Es ging um die mittlerweile berühmten „Anlandeplattformen“, also Sammellager für Migranten in Afrika, die seit dem EU-Gipfel vom Juni diskutiert werden. Kurz dazu gestern in der ZiB2:
„Für uns ist aber nicht die Frage entscheidend,… ob das Wort, das sich irgendwer in Brüssel einfallen lassen hat, das ich für etwas skurril halte, Anlandeplattformen, jetzt so auf irgendeinen Vertrag nieder geschrieben wird, sondern für uns ist entscheidend, dass sich keine Menschen mehr illegal auf den Weg machen.“
Schon gestern Mittag hatte der Kanzler in seiner Pressekonferenz mit den Herren Juncker und Tusk gemeint:
„Also zunächst einmal glaube ich muss man ein bisschen vorsichtig sein mit der etwas eigenartigen Wortkreation der Anlandeplattformen. Wir haben noch immer nicht herausgefunden, wem das Wort eigentlich eingefallen ist. Ich glaube, es ist nicht unbedingt notwendig, um die illegale Migration zu lösen.“
Und am Vorabend, im Doppelinterview mit Kommissionspräsident Juncker, hatte sich auf eine Frage von Hans Bürger dieser kurze Dialog entsponnen:
Hans Bürger: „Diese Anlandeplattformen, es gibt mehrere Worte dafür. Aber bleiben wir bei Anlandeplattformen. Werden die etwas?
Sebastian Kurz: „Das ist ein bisschen eine seltsame Wortkreation. Ich habe noch immer nicht herausgefunden, wem das eingefallen ist.“
Jean-Claude Juncker: „Ich glaube, das wärst Du gewesen.“
Sebastian Kurz: „Nein, nein, nein, nein, nein!“
Aber woher kommt die „seltsame Wortkreation“ nun wirklich?
Beim EU-Gipfel am 28./29. Juni in Brüssel haben sich die Regierungschef auf eine Idee geeinigt, die im englischen Abschlussdokument regional disembarkation platforms genannt wird und im deutschen Text regionale Ausschiffungsplattformen. Der Plan – und der englische Begriff – stammen aus einem Konzept des UNHCR und der Internationalen Organisation für Migration, das die EU-Spitzen übernommen hatten.
Über die Gipfelergebnisse damals berichtete Tim Cupal am 29. Juni für die ZiB2 und er ließ in seinem Beitrag auch Kanzler Kurz zu Wort kommen – mit diesem Originalton:
„Im Text heißt es jetzt Anlandeplattformen, das ist ein ganz wesentlicher Schritt, denn nur wenn wir sicherstellen, dass Menschen nach der Rettung in Drittstaaten gebracht werden und nicht auf europäischen Boden gebracht werden, werden wir das Geschäftsmodell der Schlepper zerschlagen.“
Im angesprochenen Text hieß es tatsächlich regionale Ausschiffungsplattformen, zugegeben: ein deutlich schlimmeres Wortungetüm. Doch die Anlandeplattformen gab es auch – allerdings in einem anderen Text. Am Tag vor dem Gipfel, am 28. Juni, verschickt das Bundeskanzleramt in Wien eine Presseerklärung unter dem Titel „Bundeskanzler Kurz: Trendwende in der Flüchtlingspolitik möglich“. Sie beginnt mit folgenden Sätzen:
„Es ist möglich, dass wir heute eine Trendwende in der Migrationspolitik einleiten…“, sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz zum Auftakt des Europäischen Rats in Brüssel. „Wenn wir uns auf ‚Anlandeplattformen‘ außerhalb Europas einigen, wird das dazu führen, dass Menschen nach der Rettung nicht automatisch nach Europa gebracht werden, sondern in Drittstaaten.“
Es ist die erste nachweisbare Erwähnung des Wortes Anlandeplattformen im Zusammenhang mit Flüchtlingen, die sich in der Austria Presse Agentur, in ihrem elektronischen Zeitungsarchiv mit mehr als 500 Quellen und online irgendwo finden lässt.
Jean-Claude Juncker scheint ein ziemlich gutes Gedächtnis zu haben.