SPIEGEL-Cover

Die SPIEGEL-Affäre

In seiner aktuellen Ausgabe, die am Samstag in die Läden kommt, widmet der SPIEGEL der Fälschungsaffäre im eigenen Haus eine Titelgeschichte von 23 Seiten. Neben der großen (viel gelobten aber auch heftig kritisierten) Rekonstruktion des Falles, die bereits am Mittwoch online erschienen ist, werden auch neue Details erzählt, wie der Betrug letztlich aufgeflogen ist – und mit welchem Aufwand Claas Relotius versucht hat, seine Kollegen zu täuschen. „Es ist schlimmer als jeder Albtraum“, textet seine Vorgesetzte nach dem ersten Geständnis des vermeintlichen Star-Reporters an die Chefredaktion.

Sehr spannend ist ein Text von Juan Moreno, der die ersten Fälschungen redaktionsintern aufgedeckt hat und dabei wochenlang gegen „dicke, solide Betonwände, SPIEGEL-Qualität gewissermaßen“ gerannt ist. Sein Fazit: „Hätten meine Chefs anders reagieren müssen? Ja, vermutlich. Hätte ich an ihrer Stelle anders reagiert? Nein, vermutlich nicht.“

Lesenswert auch ein Gespräch mit Giovanni di Lorenzo, dem Chefredakteur des großen Konkurrenten ZEIT, der die SPIEGEL-Redaktion ziemlich scharf kritisiert: „Diese Geschichten waren von einer Glätte, Perfektion und Detailbesessenheit, dass es einige von uns nicht glauben konnten. […] Warum gehen nicht irgendwann mal die Alarmglocken an?“

Aber seine Kritik am SPIEGEL ist auch jenseits der Fälscher-Affäre sehr grundsätzlich: „Sie haben eine unglaubliche Recherche-Power. Sie können alles daransetzen, etwas rauszufinden. Doch beim Schreiben, meine ich, lassen Sie dann einen Teil der Recherche oft raus zugunsten einer besonders schlüssig oder plausibel klingenden Geschichte. […] Wenn die Maschine des SPIEGEL erst mal angeworfen ist, und da sehe ich etwas Systemisches, dann macht sie alles platt. Und wenn sich hinterher herausstellt, es war die falsche Straße, die wir plattgemacht haben, dann ist es für den Betroffenen schon zu spät, weil er einbetoniert ist durch diese Walze.“

Neben (großteils sehr kritischen) Branchen- und Leser-Reaktionen bringt der SPIEGEL auch ein Interview mit jenen zwei Bewohnern der Kleinstadt Fergus Falls in Minnesota, die in einem Blog-Beitrag eine „Reportage“ von Claas Relotius über ihren Ort so sauber sezieren, dass nichts mehr davon übrig bleibt außer einer einzigen Peinlichkeit.
(Die gesamte Titelstrecke steht auch als kostenloses PDF online.)

WAS SONST NOCH GESCHAH

Auf SPIEGEL.DE werden heute „Fragen der Leser“ zur Affäre beantwortet. Sämtliche Texte, die von Relotius erschienen sind, sind jetzt offen online und die Redaktion bittet um Hinweise auf Unregelmäßigkeiten. Es gibt ein Video-Interview mit Juan Moreno, der den Fälscher im eigenen Haus enttarnte und mit dem auch die SZ ein lesenswertes Gespräch geführt hat. Moreno ist tatsächlich so etwas wie der einzige Held dieses Dramas:

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Schon gestern wurde jene Fälschung bekannt, die mich persönlich am meisten bedrückt. Erst vor wenigen Monaten hat Relotius die letzte Überlebende der „Weißen Rose“ interviewt, die 99-jährige Traute Lafrenz. Erschienen ist ein Gespräch, das mich beim Lesen zum Weinen gebracht hat. Aber auch dieses Interview war – zumindest teilweise – erfunden.

Hier stellt sich für mich am dringendsten die Frage nach der Mitverantwortung der Redaktion: Der SPIEGEL hat die Praxis, Interviews autorisieren (also vom Gesprächspartner gegenlesen und korrigieren) zu lassen, im deutschen Sprachraum einst eingeführt. So sollten aus den abgedruckten Interviews unbestreitbare historische Dokumente werden.

Aber da interviewt ein Reporter die letzte Überlebende der berühmtesten Widerstandsgruppe der NS-Zeit, eine einmalige Zeitzeugin, und der SPIEGEL verzichtet auf eine Autorisierung? Weil Lafrenz keine verlangt habe (tatsächlich sind Autorisierungen in den USA nicht üblich). Aber warum hat der SPIEGEL in diesem Fall keine verlangt? Erst recht, nachdem Relotius kein Tonband von dem angeblich mehrstündigen Gespräch vorweisen konnte? Wie glaubwürdig ist das? Und warum ließ die Redaktion das durchgehen? Das verstehe ich wirklich nicht.

DIE ROLLE DER VORGESETZTEN

Apropos Kontrolle: In einem hochinteressanten Twitter-Thread erzählt ein amerikanischer Journalist, wie das fact checking bei großen US-Magazinen funktioniert und kritisiert die berühmte SPIEGEL-Dokumentation hart: „To claim that no publication is safe from a dishonest journalist may be true. But it’s also clear that they didn’t try very hard.“

Die WELT bringt ein Interview mit Ulrich Fichtner, einem der designierten SPIEGEL-Chefredakteure und Ex-Ressortleiter von Claas Relotius. Fichtner ist eine der „Edelfedern“ des Magazins und seine erste große Rekonstruktion der Affäre wurde auch dafür kritisiert, dass sie „zu literarisch“ gewesen wäre und zu wenig sachlich-nüchtern. Seine Replik: „Wir befinden uns in einer großen Krise. Unsere Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel, unsere Werte, die wir mehr als 70 Jahre hochhalten. Dann einen Artikel zu schreiben, der wie eine Meldung der Deutschen Presse-Agentur losgeht – nichts gegen die dpa –, wäre ein bisschen komisch.“

Hinterfragt wird aber auch die Rolle von Fichtner selbst, der eine Zeit lang das Ressort geleitet hat, für das Relotius schrieb. Sollte da ausgerechnet Fichtner den ersten großen SPIEGEL-Text zum Thema schreiben, fragt die MDR-Medienkolumne ALTPAPIER. Und die ZEIT berichtet, dass Vorgesetzte bereits 2017 Hinweise bekamen, an einer Relotius-Reportage könne einiges nicht stimmen – aus dem eigenen Haus, von SPIEGEL-TV. Folgenlos.

Da Claas Relotius vor seiner SPIEGEL-Zeit auch für andere renommierte Medien gearbeitet hat, werden nun auch dort hektisch die Archive durchsucht. Am interessantesten finde ich die Zwischenbilanz der ZEIT, wo sechs seiner Texte veröffentlicht wurden. Und da zeigt sich: Eine Hamburger Familie mit einem Trisonomie 21-Kind, die Relotius porträtiert hat, lässt sich nicht finden. Es ist höchst fraglich, ob sie überhaupt existiert. Dieses Porträt ist aber schon 2011 erschienen, damals war der freie Journalist Relotius erst 26 – und hat offenbar eine ganze Geschichte schlicht erfunden.

FELIX KRULL MIT LAPTOP

Wenn das so war, dann stimmt die Erklärung jedenfalls nicht, hier wäre ein gefeierter aber sensibler Jungstar durch die frühen Erfolge so unter Druck geraten, dass er meinte, nur mit unerlaubtem „Doping“ das Niveau halten zu können. 2011 war Claas Relotius ein ambitionierter no name, der jedenfalls nicht mehr unter Druck stand als zahllose andere junge Journalist*innen, die sich trotzdem ihre Texte nicht einfach ausgedacht haben. Viel mehr scheint der Mann ein professioneller Betrüger zu sein. Ein Hochstapler, besonders begabt und skrupellos. Eine Art Felix Krull mit Laptop.

Ein Video von 2015 zeigt Claas Relotius in einem sehr ausführlichen Gespräch über „Das Geheimnis des Erzählens“. Leider hat er sein Geheimnis aber nicht verraten – dass nämlich auch die Reportagen, deren angebliche Entstehung er hier beschreibt, großteils erfunden waren. Den Hacker, von dem er erzählt, hat er – wie man heute weiß – nie getroffen.

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2015 hat Relotius auch im SZ-MAGAZIN zwei manipulierte Interviews untergebracht. Und ziemlich skurril ist eine Korrektur, die das NZZ-Folio im Jahr davor nach einer seiner Reportagen gebracht hat und die heute natürlich ganz anders wirkt.

Sehr verhalten reagiert die Schweizer WELTWOCHE, in der Relotius insgesamt 28 Beiträge veröffentlicht hat, vor allem Interviews mit Prominenten. Auch davon dürften etliche höchst zweifelhaft sein. Der streitbare WELTWOCHE-Chefredakteur Roger Köppel, der sonst keine Gelegenheit auslässt, das angebliche Versagen der „Mainstream-Medien“ anzuprangern, bleibt im Fall Relotius allerdings ziemlich wortkarg und ungewohnt nachsichtig:

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Als freier Autor hat Relotius auch für österreichische Magazine geschrieben, konkret für DATUM und für PROFIL. Beide Redaktionen wollen erst herausfinden, wie manipuliert seine Geschichten waren. Den österreichischen „Zeitschriftenpreis“, mit dem er 2012 für ein Interview im PROFIL ausgezeichnet wurde, hat man ihm bisher – jedenfalls offiziell – nicht aberkannt. Im Gegensatz zu seinen vier Deutschen Reporterpreisen, dem Peter-Scholl-Preis und zwei Auszeichnungen von CNN. Strafbar ist das, was Relotius über Jahre praktiziert hat, übrigens nicht, wie ein Strafverteidiger in CICERO erklärt. Selbst Schadenersatz wäre für den SPIEGEL nur schwierig einklagbar.

ZU VIELE JOURNALISTENPREISE?

Aber was bedeutet die Fälscher-Affäre nun grundsätzlich?

Die FAZ hat dazu Cordt Schnibben interviewt, den Erfinder des „Reporterpreises“ und viele Jahre langt selbst legendärer SPIEGEL-Reporter. Der Branchen-Dienst meedia ist skeptisch, dass der Skandal zu einem grundsätzlichen Umdenken beim SPIEGEL führen wird und kritisiert in einem weiteren Kommentar die Flut an Journalisten-Preisen.

In der FAZ kritisiert Claudius Seidl konkret den „Deutschen Reporterpreis“, der Relotius erst Anfang Dezember in der Kategorie „Reportage“ für einen Text aus Syrien ausgezeichnet hat: „Dass die Jury des Reporterpreises, in der einige der prominentesten Köpfe der sinnstiftenden Klasse zusammensitzen, so etwas nicht nur nicht zurückweist, als grundsätzlich irrelevant; dass sie vielmehr diesem Text nicht nur einen Preis verleiht, sondern in der Begründung schreibt, dass so ein Text in die Schulbücher gehöre: Das ist so erschütternd; man möchte mit dem Fall Relotius ganz dringend die Hoffnung verknüpfen, dass er nicht bloß diese Jury, sondern womöglich den ganze Reportagepreisbetrieb zu einer längeren Denkpause inspiriere.“

(Offenlegung: Ich gehöre beim Deutschen Reporterpreis seit 2015 der Jury für „Investigation“ an. Dieses Jahr wurde in dieser Kategorie die ZEIT ausgezeichnet – für ihre Artikelserie über #metoo-Vorwürfe gegen den Regisseur Dieter Wedel. Die Jury bestand aus Kristina Dunz, Claus Kleber, Elisabeth Niejahr, Anja Reschke und mir.)

DAS ENDE DER REPORTAGE?

Da Relotius vor allem große Reportagen geschrieben hat, stellen einige Kritiker dieses journalistische Format nun überhaupt in Frage. In einer sehr ausführlichen und klugen Analyse bilanziert etwa der frühere SPIEGEL und nunmehrige ZEIT-Reporter Holger Stark: „Die Relotius-Affäre ist nicht das Ende der Reportage. Aber die Kunstform der makellosen, überparfümierten Reportage, die den Leserinnen und Leser vorgaukelt, die ganze Welt im Schicksal einer Person erzählen zu können und mit der Figur des allwissend-autoritären Erzählers dabei ist, wenn es knallt und raucht und funkt – diese cineastische Kunstform muss spätestens jetzt am Ende sein; genau genommen ist sie es schon länger. […] Relotius‘ Texte waren großes Kino. Mit der Suche nach der Wahrheit oder zumindest den Tatsachen hatten sie wenig bis nichts zu tun.“

Noch grundsätzlicher argumentiert der langjährige Journalist Jonas Schaible sein „Unbehagen eine Geschichte zu erzählen“: „Eine Geschichte folgt im Kern klassischen Erzählmustern: Tragödie, Aufstieg und Fall, die Heldenreise, die Vorbereitung auf den großen Kampf, der verlorene Sohn, der Verrat. Es gibt kein klassisches Erzählmuster für Ambivalenz, eine Geschichte hält Ambivalenz nur aus, solange sie den Verlauf der Handlung nicht stört. […] In vielen Fällen bietet die Welt nicht den Rohstoff, nicht die Dramaturgie, die eine Geschichte braucht.“

Auch Medien-Professor Bernhard Pörksen sieht ein Problem in der „narrativen Verführung“ und fragt: „Braucht es nicht längst eine neue Sachlichkeit, eine Rückkehr zur strengeren Form oder doch eine absolut offen deklarierte Subjektivität, die die konkrete Schilderung als rein persönliche Wahrnehmung ausweist?“

Cordt Schnibben antwortet auf diese Kritik in einem längeren Text auf Facebook: „Wer jetzt Reportage als ‚Schönschreiberei‘ abtun und erledigen will, hat nicht verstanden, dass gute Reportagen zu 70 Prozent aus Recherche bestehen. Und wer könnte sich dagegen wehren, dass Texte, egal ob Reportagen, Reports, Essays, Kommentare, Meldungen ’schön‘ geschrieben sein sollen, also so, dass der Journalist möglichst viele Leser erreicht. Relotius hat vor allem durch erfundene Recherchen ‚geglänzt‘ und so die Reportage missbraucht. So, wie er auch Interviews missbraucht hat, sollen wir keine Interviews mehr drucken?“

Eine besonders grundsätzliche, ausführliche und schonungslose Bilanz zieht der Blogger und frühere Journalist Thomas Knüwer aus der „Causa Relotius“. Sein Fazit: „Der Journalismus hat in Deutschland ein systemisches Problem mit der wahrheitsgetreuen Darstellung von Fakten und Situationen – und wir müssen dies gemeinsam ändern.“

To be continued…


NACHTRAG VOM 23.12.: Dieser Blogpost wurde in den letzten Tagen mehrfach aktualisiert und um Links zu weiteren Beiträgen ergänzt.