Über Jugendsünden und die Macht von Wikipedia

Wenn man öfter im Fernsehen auftritt, wird gelegentlich auch über einen geschrieben und man wird zu Diskussionsveranstaltungen eingeladen, in Schulen, auf Unis, von Kulturvereinen. Die Gesprächspartner, auf die man dort trifft, sind sehr unterschiedlich vorbereitet. Manche verblüffen einen mit biografischen Details und müssen wirklich viel gelesen haben, andere wissen eher wenig. Das einzige, das immer alle kennen, ist der Wikipedia-Eintrag ihres Gastes.

Ich bin kein PR-Experte, aber eines habe ich in den letzten 17 Jahren in einem relativ exponierten Beruf gelernt: Es gibt für Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, kaum etwas Wichtigeres als ihren Wikipedia-Eintrag. Das ist das, was jeder von einem weiß.

Auf meiner Wikipedia-Seite zum Beispiel steht seit etlichen Jahren, dass ich mal Mitglied der Jungen ÖVP war. Und da steht auch: „Seine JVP-Mitgliedschaft bezeichnete Wolf später als ‚Jugendsünde‘.“

DIE WAHRE GESCHICHTE

Seither wurde ich dutzendfach auf dieses Zitat angesprochen, vor allem in Diskussionen mit Jugendlichen – und erst vor wenigen Tagen stand es wieder in einem Zeitungsporträt. Und jedesmal muss ich diese „Jugendsünde“ erklären – deshalb erkläre ich sie jetzt mal hier. Was nämlich nicht auf Wikipedia steht: Die „Jugendsünde“ war ironisch gemeint.

Und ich verdanke sie Michael Spindelegger. (Von dem ja sonst – außer der Entdeckung von Sebastian Kurz – eher wenig blieb.)

Mit dem damaligen Vizekanzler und ÖVP-Chef habe ich 2012 ein ORF-„Sommergespräch“ geführt. Schon während meiner Vorbereitung erzählte mir ein ÖVP-Funktionär im Vertrauen, das Generalsekretariat würde seit Tagen herumtelefonieren, um herauszufinden, ob ich wirklich mal bei der Jungen ÖVP gewesen sei.

SCHWARZE ARCHIVE

Ich fand das aus mehreren Gründen überraschend: Zum einen dachte ich, dass Parteien Mitgliederverzeichnisse haben und diese auch archivieren. Da hätte sich sehr leicht feststellen lassen, dass ich von 1980 bis 1985 Mitglied der JVP-Ortsgruppe Olympisches Dorf in Innsbruck war. Zum zweiten konnte man meine JVP-Mitgliedschaft schon damals auf Wikipedia nachlesen, weil sie in irgendeinem Zeitungsporträt über mich vorgekommen war. Und zum dritten dachte ich, es wäre mein Job, vor dem Sommergespräch etwas über Herrn Spindelegger zu recherchieren, und nicht der Job der ÖVP, etwas über den Interviewer herauszufinden.

Wie auch immer. Das Gespräch begann mit einem Thema, mit dem Spindelegger rechnen musste: Mit den Gerüchten über eine bevorstehende große Regierungsumbildung. Der Vizekanzler wich wortreich aus und sagte dann (im Video bei 3.30 min): „Gerüchte, gibt‘s dermaßen viel. Es gibt ja auch das Gerücht, dass Sie ein JVP-Mitglied waren.“
(Spindelegger spricht JVP wie viele in seiner Partei als „JotVauPe“ aus.)

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IRONIE UND WIKIPEDIA

Und wieder war ich erstaunt: Dem ÖVP-Generalsekretariat war es tatsächlich nicht gelungen, herauszufinden, ob ich wirklich JVP-Mitglied war? Ich wusste auch nicht, was das Thema in einem ORF-Interview verloren hatte. Und ich fand überraschend, dass mir der ÖVP-Chef eine frühere Mitgliedschaft in der ÖVP wie einen Vorwurf vorhielt.

Nun ging es in dem Sommergespräch aber nicht um mich, sondern um Herrn Spindelegger und seine Partei, also antwortete ich: „Stimmt, eine Jugendsünde – ich bin mit 18 ausgetreten.“

Es war als kurze, ironische Replik auf ein absurdes Ablenkungsmanöver Spindeleggers gedacht und ich führte das Gespräch dann wieder auf meine Fragen zurück. Und trotzdem verfolgt mich die „Jugendsünde“ nun schon sieben Jahre. Seit sie jemand – als nüchternes Zitat – in meinen Wikipedia-Eintrag eingefügt hat.

POLITIK AN DER BASIS

Natürlich war meine Parteimitgliedschaft keine Jugendsünde. Im Gegenteil, ich bin noch heute dankbar für die Erfahrungen, die ich durch mein politisches Engagement gewonnen habe. Weniger in der Mini-JVP-Gruppe von nichtmal zehn Mitgliedern, sondern weil ich ein paar Jahre lang auch an Sitzungen der lokalen ÖVP-Ortsgruppe teilgenommen habe und dort aus erster Hand lernen konnte, wie Politik an der Basis funktioniert und wie Parteifunktionäre denken.

Noch mehr gelernt habe ich übrigens in der Schülervertretung, ich war nämlich auch ein paar Jahre in der Union Höherer Schüler aktiv, ein Jahr lang auch im Bundesvorstand. Als 16-, 17-jähriger habe ich viele Wochenenden auf Schülerzeitungs- und Schülervertretungs-Seminaren verbracht, bei Rhetorik-Schulungen und in anderen Workshops. Wir haben mit Unterrichtsministern (Moritz, Zilk) diskutiert und eine Reform der Handelsakademie ausgearbeitet, von der sich dann tatsächlich einiges im neuen HAK-Lehrplan wiedergefunden hat.

DER EINSTIEG

Warum gerade JVP und UHS? Ich bin im tiefschwarzen Tirol der 1980er Jahre aufgewachsen (die ÖVP hatte im Landtag eine Zweidrittel-Mehrheit, heute unvorstellbar), meine Eltern waren beide politisch interessiert und auch ein bisschen aktiv: Mein Vater als (schwarzer) Betriebsrats-Obmann der Wohnbaufirma, in der er als Hausmeister beschäftigt war, meine Mutter in der winzigen Ortsgruppe der ÖVP-Frauenbewegung.

Zuhause wurde ständig über Politik diskutiert, ich fand das spannend und irgendwann hat mich der Obmann der noch winzigeren JVP-Ortsgruppe angesprochen (lustigerweise mein ehemaliger Volksschullehrer). Eines der Mitglieder dort war auch in der UHS und hat mich mal mitgenommen, nur der Mittelschüler-Kartellverband (MKV), wo er auch aktiv war – der hat mich nie interessiert. Ich mochte schon damals kein Bier.

In der UHS war ich wirklich engagiert, Schulpolitik fand ich lohnend und ich habe dort hochtalentierte Menschen kennengelernt, von denen gar nicht so wenige beachtliche Berufskarrieren hingelegt haben.

Bei den JVP-Treffen im O-Dorf war ich selten, aber die monatlichen Sitzungen der Gesamtpartei fand ich interessant. Da saßen ein Innsbrucker Stadtrat, ein Gemeinderat und der Chef des Tiroler Wirtschaftsbundes. Und obwohl das 35 Jahre her ist, habe ich bis heute das Gefühl, dass ich das Innenleben der ÖVP noch immer ziemlich gut verstehe.

DER ABSCHIED

1985 sind dann zwei Dinge passiert: Ich begann nach der Matura als freier Mitarbeiter im ORF-Landesstudio und wusste recht schnell, dass mich Politik-Berichterstattung interessiert. Und ich wusste auch: Man kann nicht gleichzeitig über ein Match berichten und Mitglied einer Mannschaft sein. Also habe ich der Jungen ÖVP meinen Austritt erklärt und auch der Fraktion Christlicher Gewerkschafter in der „Schülerzeitungs-Gewerkschaft“, die es damals gab.

Und ich begann Politikwissenschaft zu studieren, was meinen politischen Horizont doch etwas über die Ortsgruppe Innsbruck, O-Dorf hinaus erweitert hat.

Ich glaube auch heute noch nicht, dass man gleichzeitig politischer Journalist und parteipolitisch aktiv sein kann. Aber ich bin trotzdem froh, dass ich vor meinem Einstieg in den Journalismus politische Erfahrungen gesammelt habe, wenn auch auf einer ganz kleinen Ebene. Ich habe dabei sehr viel für meinen Beruf und auch einiges fürs Leben gelernt.

ENGAGIERT EUCH!

Deshalb erkläre ich auch allen Jugendlichen, die mich heute in Schulen oder an Unis auf meine „Jugendsünde“ anreden: Das war ironisch gemeint. Das war ganz und gar keine Jugendsünde, das war sogar super – und ihr solltet euch alle politisch engagieren.

Das kann in einer Partei sein, egal in welcher (solange sie demokratisch ist), in einer NGO, einer Bürgerinitiative, auf Demos, in der Schülervertretung oder in der Gewerkschaft. Demokratie lebt vom Engagement ihrer Bürger, ihr könnt mitgestalten und ihr werdet dabei Dinge lernen, die im Leben nützlich sein werden. Es gibt wirklich dümmere Jugendsünden.

Und könnte vielleicht irgendwer auf Wikipedia in den Satz „Seine JVP-Mitgliedschaft bezeichnete Wolf später als ‚Jugendsünde‘“ das Wort „ironisch“ einfügen?


NACHTRAG: Keine halbe Stunde, nachdem dieser Text hier online ging, hat jemand meine Wikipedia-Seite aktualisiert. Danke schön! Ganz unironisch.