Ich bin seit meiner Matura Journalist und bis heute habe ich nichts Eindrucksvolleres erlebt als die Novembertage in Prag vor genau dreißig Jahren, die sehr schnell als „Samtene Revolution“ berühmt geworden sind.
Wenige Tage nach dem Fall der Berliner Mauer sollte ich als Radioreporter für Ö1 ins damalige Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) fahren, als am 17. November 1989 die ersten Meldungen von einer Massendemonstration in Prag kamen. Außenpolitik-Chef Roland Machatschke bat mich, statt in die DDR doch in die Hauptstadt der Tschechoslowakei zu fahren.
Es war ein nasser, kalter, grauslicher Novemberabend, als ich im Hotel Forum an der Stadtautobahn aus dem Auto stieg und mit der U-Bahn ins Zentrum weiterfuhr – zum ersten Mal in meinem Leben in Prag, mit 23, ohne ein Wort Tschechisch zu verstehen. Die nächsten 14 Tage blieb ich dann da, fror jeden Abend mit zehntausenden, später hunderttausenden Menschen am Wenzelsplatz – und beobachtete eine friedliche, fröhliche Revolution beim Siegen, eine kommunistischen Diktatur beim Zusammenbrechen und die Geburt einer Demokratie.
Am wenigsten vergessen werde ich den Abend des 24. November, eine Woche nach meiner Ankunft: Wie jeden Tag informierten die Dissidenten des „Bürgerforums“ nach der Massendemonstration am Wenzelsplatz im nahen Theater „Laterna Magica“ die Journalisten aus aller Welt.
Auch an diesem Abend sitzt Vaclav Havel auf der Bühne, neben ihm Alexander Dubček, der tragische Held des „Prager Frühlings“ von 1968, der an diesem Nachmittag erstmals seit dreißig Jahren wieder öffentlich aufgetreten war, die Ökonomin Rita Klimova, die ins Englische übersetzt, Havels enger Freund Jiri Dienstbier und der Priester Vaclav Maly, der die Pressekonferenz moderiert.
Plötzlich tritt von hinten ein Mann auf die Bühne und flüstert Maly etwas ins Ohr, der schüttelt ungläubig den Kopf, der Mann sagt nochmal was – der Priester fängt zu lächeln an und nimmt sich das Mikrofon: „Wir sollten für eine wichtige Nachricht unterbrechen.“
Die Führung der KPČ war zurückgetreten.
Auf der Bühne fallen sich die Revolutionäre in die Arme, irgendwer bringt Sekt und im Saal springen dreihundert Journalisten auf und klatschen und jubeln und haben Tränen in den Augen. Jeder von uns weiß in diesem Moment, dass wir gerade Geschichte erleben. Dass wir Augenzeugen einer Szene sein dürfen, die in den Geschichtsbüchern stehen wird.
Wenige Wochen später ist Vaclav Havel, der Dichter und Dissident, der jahrelang im Gefängnis gesessen war, Staatspräsident der Tschechoslowakei. Dubček wird Parlamentspräsident, Dienstbier Außenminister, Klimova Botschafterin in Washington und Vaclav Maly wird später Weihbischof von Prag.
1990 habe ich für ein „Lesebuch zur Wende im Osten“ einen längeren Text über diese historischen Tage in Prag geschrieben. Mein damaliger Ö1-Kollege Ernst Hauer hat den Sammelband mitherausgegeben, ORF-Reporter*innen von Susanne Scholl über Franz Kössler, Raimund Löw, Helmut Opletal bis Brigitte Fuchs und etliche andere österreichische Journalisten beschreiben darin, wie sie das Ende des Kommunismus von Berlin bis Bukarest erlebt haben.
Das Buch ist längst vergriffen, aber ich besitze noch ein Exemplar und habe heute zum 30. Jahrestag der „Samtenen Revolution“ meine Reportage über diese Tage „KGB-Irrtum am Wenzelsplatz“ eingescannt.