Screenshot Janik-Wolf

„Was ist im Krieg erlaubt, Herr Janik?“

Diese Woche habe ich für die ZiB2 ein ungewöhnlich ausführliches Interview mit dem Wiener Völkerrechts-Experten Ralph Janik über den Krieg in der Ukraine geführt: Ob der russische Überfall Wladimir Putin automatisch zum Kriegsverbrecher macht und ob er dafür irgendwann vor Gericht muss? Was überhaupt Kriegsverbrechen sind? Wie man Verstöße gegen das Kriegsrecht verhindern kann? Und wir haben auch sehr detailliert über die österreichische Neutralität gesprochen – und was sie konkret in diesem Krieg und auch grundsätzlich bedeutet. Und auch darüber, ob und wie man sie wieder abschaffen könnte.

Es gibt von diesem Interview eine ca. sechs Minuten lange Version, die wir in der ZiB2 gesendet haben. Und eben eine Langfassung von knapp 27 Minuten, die sie hier sehen oder hier hören können. Oder nachfolgend lesen:


Herr Dr. Janik, das was wir da in den letzten Tagen in der Ukraine sehen, in Städten wie Charkiw, Kiew, Mariupol – immer mehr Angriffe auf zivile Ziele – da sagt der britische Premierminister, das seien Kriegsverbrechen. Ist das so?

Ja, das lässt sich relativ leicht herunterdeklinieren. Grundsätzlich greift hier das humanitäre Völkerrecht und einer der zwei Grundsätze, die hier zur Anwendung kommen, ist das Prinzip der Unterscheidung. Man darf Zivilisten und zivile Objekte nicht direkt angreifen und solche Angriffe fallen auch unter die Definition eines Kriegsverbrechens.

Vielleicht einmal grundsätzlich von Anfang an: Diese russische Invasion in der Ukraine selbst ist eindeutig völkerrechtswidrig, oder?

Ja, auch das ist rechtlich ganz leicht herunterzudeklinieren. Wir haben ein Interventionsverbot, wir haben ein Verbot von Krieg, wir haben ein Verbot von direkter und indirekter Gewalt. Und gegen all diese fundamentalen Regeln des Völkerrechts verstößt Russland hier, weil keine der Ausnahmen greift. Also weder hat die Ukraine Herrn Putin dazu eingeladen auf ukrainischem Territorium gegen die Ukraine vorzugehen, das wäre ja auch absurd, noch gibt es eine Resolution des UNO-Sicherheitsrats und es ist auch kein Fall von Selbstverteidigung. Also, weder können die sogenannten Volksrepubliken, die ja keine unabhängigen Staaten sind, eine solche Einladung aussprechen, noch ist es der Fall, dass Russland von der Ukraine angegriffen worden wäre. Man muss ja kein Militärstratege sein, um zu wissen, dass ein Angriff auf Russland keine besonders gute Idee wäre.

Dieser Krieg selbst ist völkerrechtswidrig, aber gilt dann trotzdem innerhalb eines rechtswidrigen Krieges das Kriegsrecht?

Ja, das Kriegsrecht ist unabhängig vom sogenannten ius ad bellum. Es gilt auch für beide Seiten. Es gilt sowohl für den Staat, der sich verteidigt, als auch für den Staat, der angreift. Man versucht das zu trennen, weil sonst jeder Staat für sich beanspruchen könnte: Wir führen ja einen „gerechten“ Krieg und um auf jeden Fall zu gewinnen, dürfen wir uns nicht durch das humanitäre Völkerrecht zurückhalten oder beschränken lassen. Damit so etwas nicht passiert, damit man diesen Gang in die Argumentationshölle nicht aufmacht, greift das eben unabhängig davon, ob man einen konkreten validen Rechtstitel hat oder nicht.

Warum sollte sich aber ein Land, dass einen völkerrechtswidrigen Krieg beginnt, im Krieg an irgendwelche rechtlichen Regeln halten?

Da greifen sowohl politische, als auch taktische, als auch rechtliche Gründe. Zum einen will man es sich mit der betroffenen Bevölkerung des angegriffenen Staates ja nicht ganz verscherzen. Also, wenn Russland – was ja hier die Strategie zu sein scheint – eine Marionettenregierung installieren möchte, aber man vorher ganz massive Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung begangen hat oder auch gegen andere, die zu Waffen gegriffen haben, dann wird es eben schwer, langfristig für Stabilität zu sorgen oder gar die Menschen für sich zu gewinnen. Es ist auch so, dass im Extremfall das Völkerstrafrecht greift. Das heißt, es könnte Konsequenzen geben für Kommandanten bis ganz nach oben in die Regierung, zumindest in der Zukunft, für diejenigen, die Kriegsverbrechen angeordnet oder direkt begangen haben. Und es ist auch noch zu bedenken, dass hier die Reziprozität greift. Das heißt, wenn die eine Seite gegen das humanitäre Völkerrecht verstößt, muss sie damit rechnen, dass die andere Seite das auch tut und am Ende haben wir eine Abwärtsspirale, in der sich niemand mehr an irgendwelche Regeln hält und das wollen – hoffe ich zumindest – beide Seiten nicht.

Darf das die andere Seite: Dass sie dann, quasi in Selbstverteidigung, das Kriegsrecht bricht?

Nein, unabhängig vom casus belli, also auch wenn man einen „gerechtfertigten“ Krieg kämpft, muss man sich an das Kriegsrecht halten.

Sie haben schon am Anfang gesagt, dass sich Russland nicht an das Kriegsrecht hält, weil der Beschuss von zivilen Zielen nicht in Ordnung ist. Andererseits: Niemand kann es verhindern, oder?

Ja, unmittelbar anscheinend nicht. Wir haben jedenfalls in der Europäischen Union klargestellt und der Westen als solches, dass man der Ukraine militärisch nicht zu Hilfe kommt, sondern versucht, einen traditionellen Krieg mit einem Wirtschaftskrieg zu bekämpfen.

Wäre es nach dem Völkerrecht in Ordnung, wenn ein anderes Land sagen würde: Russland begeht Kriegsverbrechen in der Ukraine, wir helfen der Ukraine jetzt. Wäre das ein gerechtfertigter Kriegsgrund?

Ja, das Selbstverteidigungsrecht beinhaltet auch das Recht auf kollektive Selbstverteidigung und das bedeutet, dass ein Staat, der sich verteidigt, auch andere Staaten darum bitten kann, ihm zu Hilfe zu kommen. Und diese Staaten können sich dann wiederum auf das Selbstverteidigungsrecht des angegriffenen Staates berufen.

Russland setzt in der Ukraine offenbar Streubomben ein. Die sind nach internationalen Verträgen verboten, aber Russland hat diesen Vertrag selbst nicht unterzeichnet. Darf es diese fürchterlichen Waffen deshalb ganz legal einsetzen?

Das ist eine strittige Rechtsfrage, wegen der Auswirkungen dieser Bomben auf Zivilisten und weil sie nicht unterscheiden können zwischen Kombattanten, also legitimen Zielen, und Zivilisten, also nichtlegitimen Zielen. Man kann also schon problematisieren, dass man diese Waffen nicht einsetzen sollte, obwohl man den entsprechenden Verträgen nicht beigetreten ist. Es wird aber, wie wir traurigerweise sehen, dennoch gemacht.

In der Hauptstadt Kiew sollen bereits russische Spezialkommandos unterwegs sein, um Präsidenten Selenskj festzunehmen oder gar zu ermorden. Ist denn sowas zulässig?

Wenn ich jetzt ein russischer Völkerrechtler wäre, würde ich sagen, dass Herr Selenskj ein legitimes Angriffsziel ist, weil er ja aufgrund seiner Funktion als Präsident und oberster Befehlshaber der Streitkräfte Sonderfunktionen hat. Ich bin aber kein russischer Völkerrechtler und verweise deswegen darauf, dass allgemein gilt, dass in einem Aggressionskrieg jeder Verlust von Menschenleben eine Verletzung des Rechts auf Leben ist und das gilt auch für den Präsidenten, ungeachtet seiner Sonderstellung im Rahmen der ukrainischen Verfassung. Also, nein.

Dürfte man ihn festnehmen?

Auch nicht. Das hängt, wie gesagt, alles daran, dass der Krieg als solches schon illegitim ist und ein solcher regime change ist im Völkerrecht ganz eindeutig verboten.

Jetzt gilt das Kriegsrecht ja für reguläre Soldaten, aber in der Ukraine wurden in der letzten Woche auch tausende Zivilisten und Freiwillige von der Regierung mit Gewehren ausgestattet und viele Menschen basteln auch Molotow-Cocktails, um sie auf russische Panzer zu werfen, wenn sie dann nach Kiew rollen. Ist das erlaubt?

Da muss ich aufpassen, dass ich nicht zu weit aushole, weil  das auf mehreren Ebenen eine sehr technische Frage ist. Vor allem gilt hier, wenn man teilnimmt an Kampfhandlungen, zum Beispiel durch das Abwerfen von einem Molotow-Cocktail, dass man dadurch eine sogenannte direkte Teilnahme an Kampfhandlungen begeht. Und für die Dauer dieser Kampfhandlung, also solange man diesen Molotow-Cocktail auf einen Panzer wirft, ist man auch ein legitimes Angriffsziel. Kein russischer Soldat muss dann absteigen und sagen, ok, der wirft sogar einen Molotow-Cocktail auf mich, aber ich darf mich nicht wehren. Das wäre ja auch sinnwidrig.
Eine andere Frage stellt sich aber noch bei Zivilisten, die mit Waffen ausgestattet sind. Da kommen im Wesentlichen zwei Konzeptionen in Betracht: Einerseits kann man von einer levée en masse sprechen, also einer Massenerhebung des Volkes gegen Invasoren. Das muss aber spontan sein und das ist hier – weil schon zu viel Zeit vergangen ist – nicht mehr ganz spontan. Da greift die Bestimmung für Kriegsgefangene bzw. für Kombattanten, also für Menschen, die zumindest ein gewisses Ausmaß an Organisation haben, sich an das Kriegsrecht halten, Waffen bekommen haben und sich auch noch eindeutig ausweisen oder in irgendeiner Form als Kämpfer zeigen, auch wenn man keine Uniform trägt, zum Beispiel mit einer gelben Schleife und damit hat man das Recht auf Kriegsgefangenen-Status, ist aber gleichzeitig auch ein legitimes Angriffsziel.

Nun haben wir schon mehrfach klargestellt: Dieser Krieg in der Ukraine ist völkerrechtswidrig. Macht das Wladimir Putin automatisch zum Kriegsverbrecher?

Hier muss man unterschiedliche völkerstrafrechtliche Belange voneinander trennen. Das eine ist die Aggression, also dieser Angriffskrieg, und dann die Kriegsverbrechen, die während des Krieges begangen werden. Beim Angriffskrieg hat der Internationale Strafgerichtshof keine Zuständigkeit. Die andere Frage ist, ob Putin Kriegsverbrechen anordnet. Wenn das der Fall ist, macht ihn das auch zum Kriegsverbrecher, aufgrund der Befehlskette. Also das kann theoretisch bis ganz nach oben gehen, ist aber dann in der Rechtssprechung für etwaige Gerichte, die damit zu tun haben könnten, natürlich sehr schwer.

Das heißt, einen Überfall auf ein Nachbarland anzuordnen, macht einen noch nicht zum Kriegsverbrecher?

Das liegt eben an der vorher angesprochenen Trennung zwischen dem ius ad bellum, also der Frage, darf ich überhaupt einen Krieg führen, und den Regeln des Krieges selbst [ius in bello], weil das eben voneinander getrennt ist.

Aber er darf den Krieg ja nicht führen.

Eh nicht, aber selbst wenn er da gegen einen Tatbestand verstößt, heißt das nicht, dass er auch gegen die Tatbestände verstößt, die während des Krieges gelten. Das sind zwei voneinander entkoppelte Rechtsgebiete.

Aber wenn wir das jetzt mal trennen würden und sagen, die russische Armee begeht während des Krieges keine Kriegsverbrechen und hält sich an alle Regeln des Kriegsrechts, aber der Krieg, der Überfall selbst, ist rechtswidrig – würde allein der Befehl zum Einmarsch Putin zum Kriegsverbrecher machen?

Nein. Das mag kontraintuitiv klingen, aber das liegt daran, dass man traditionell versucht hat, diese beiden Rechtsgebiete voneinander zu trennen und getrennt zu behandeln.

Also alleine dafür würde Putin nie vor ein Gericht kommen?

Vor den Internationalen Strafgerichtshof jedenfalls nicht, weil der hier keine Zuständigkeit hat. Rein theoretisch – wenn er einmal nicht mehr im Amt ist und keine absolute Immunität mehr genießt – könnte er trotzdem vor ein Gericht gestellt werden, auf Grundlage des Weltrechtsprinzips, aber das ist akademische Zukunftsmusik.

Wenn wir jetzt mal davon ausgehen, dass es tatsächlich schon russische Kriegsverbrechen in der Ukraine gibt und dass es bei denen wohl nicht bleiben wird, bedeutet das, dass Wladimir Putin irgendwann als Angeklagter vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag stehen wird?

Das ist natürlich zum gegenwärtigen Zeitpunkt höchst unrealistisch, weil es davon abhängt, wie lange er an der Macht ist, weil natürlich vom gegenwärtigen Russland nicht damit zu rechnen ist, dass man ihn ausliefert. Es müsste also theoretisch nach seiner Amtszeit geschehen und es müsste jemand an die Macht kommen, der ihn wirklich nicht mag und damit sogar in Kauf nähme, dass er es sich nicht nur mit Herrn Putin verscherzt, sondern auch mit seinen Getreuen. Aber rein theoretisch möglich wäre es, weil der Internationale Strafgerichtshof Zuständigkeit für Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf ukrainischem Territorium hat oder zumindest ausüben kann.

Wenn wir mal annehmen, dass Wladimir Putin noch einige Zeit im Amt bleibt und als russischer Präsident auch irgendwann mal wieder Reisen irgendwohin unternehmen wird, könnte man ihn dann rein theoretisch bei so einem Staatsbesuch verhaften und nach Den Haag ausliefern?

Ja, wenn es einen Haftbefehl gegen ihn gibt – man hat das ja gesehen bei [Umar] al-Bashir, dem ehemaligen Staatsoberhaupt des Sudan -, gäbe es sogar eine Verpflichtung, ihn auszuliefern. Bisher hat man das allerdings immer angewendet auf Staaten, die nicht ganz so mächtig sind. Da stellt sich die realpolitische Frage, ob man sich das traut – und vorgelagert die realpolitische Frage, ob sich der Internationale Staatsgerichtshof traut, so einen weitgehenden Schritt zu setzen.

Putin hat in den letzten Tagen recht unverhohlen mit den russischen Atomwaffen gedroht. Gibt es eigentlich irgendein denkbares Szenario im Völkerrecht, in dem man Atomwaffen legal einsetzen dürfte?

Das weiß man nicht. Was es gibt, ist ein Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs aus dem Jahr 1996 – da merkt man auch, dass diese Debatte uns schon sehr lange begleitet. Und da hat der Internationale Gerichtshof gesagt, dass Nuklearwaffen immer verboten sind – eigentlich. Weil Sie gegen eines dieser beiden Grundprinzipien des Völkerrechts verstoßen, das ich schon genannt habe. Das andere ist das Verbot von unnötigem Leid, das sie auch verletzen. Aber die Richterinnen und Richter am Internationalen Gerichtshof konnten sich nicht darauf einigen, ob es nicht eine Extremsituation gibt, in der das Überleben eines Staates auf dem Spiel steht, wo dann der Einsatz von Nuklearwaffen doch gerechtfertigt sein könnte. Dazu ist aber zu sagen, dass man das Überleben eines Staates vom Überleben eines Staatsoberhaupts oder einer Regierung trennen muss, auch wenn das in der Praxis – wie wir jetzt gerade sehen – nicht sehr oft gemacht wird, vor allem bei Staaten, die autokratisch geführt werden.

Nun haben wir natürlich überhaupt keine Ahnung, wie dieser Krieg letztlich ausgehen wird, aber welche praktischen Auswirkungen hat das Völkerrecht eigentlich? 2014 hat Russland völkerrechtswidrig die Halbinsel Krim annektiert, also an Russland angeschlossen. Niemand erkennt das an, aber ganz praktisch und im Alltag ist die Krim jetzt ein Teil von Russland und kein Teil der Ukraine mehr. Und niemand kann daran mehr etwas ändern, oder?

Das ist eine Frage, die mich schon mein ganzes akademisches Leben begleitet. Dazu ist jedenfalls zu sagen, dass man das Völkerrecht nicht immer durchsetzen kann. Vor allem wenn Staaten oder genau genommen Regierungen und Staatschefs der Meinung sind, dass ihre wichtigsten Sicherheitsinteressen verletzt werden, dann werden sie auch das Völkerrecht verletzten. Was man aber machen kann, ist, dass man die Kosten für solche Völkerrechtsverletzungen möglichst hoch treibt – durch Sanktionen, was wir gerade jetzt erleben. Und dass man andererseits solchen Aktionen wie der Annexion der Krim oder der Installierung einer Marionettenregierung die Anerkennung verweigern kann oder eigentlich sogar muss. Das heißt, ein potentieller Nachfolger von [Präsident] Selenskj ist zwar faktisch an der Macht, de jure, also rein rechtlich, würde man aber so tun, als wäre er nicht der Repräsentant der Ukraine bzw. würden nur einige wenige Staaten ihn als solchen behandeln, wäre zu hoffen. Je länger jemand an der Macht ist, desto eher wird man sich damit abfinden, dass die normative Kraft des Faktischen zu greifen beginnt.
Bei der Krim zum Beispiel, weil Sie das angeführt haben, das möchte ich nur kurz betonen, das kann sich auch in alltäglichen Dingen niederschlagen. Für Österreich zum Beispiel hat sich die Frage gestellt, wenn man einen Brief oder ein Paket auf die Krim schicken will, müsste man das ja theoretisch über die Ukraine tun, denn rein rechtlich ist sie noch immer Teil der Ukraine. Wenn das nicht funktioniert, kann man dieses Paket nicht zuschicken, weil das Zuschicken über die russische Post eine implizite Anerkennung wäre.

Aber für Russland macht es keinen Unterschied, ob irgendjemand anerkennt, dass die Krim russisch ist?

Es kann schon das Wirtschaftsleben ein wenig erschweren und man möchte ja trotzdem den anderen irgendwann sagen: Für uns ist das jetzt Teil unseres Land, warum ist es das nicht für euch? Es geht da schon auch um Symbolisches und natürlich geht es auch darum, wie man im Alltag Handelsbeziehungen oder auch simple Dinge wie Postsendungen handhaben kann.

Kommen wir noch zum Thema Neutralität. Die FPÖ behauptet ja seit Tagen, Österreich würde mit seiner Teilnahme an den Sanktionen gegen Russland die Neutralität verletzen, weil wir als neutraler Staat alle Konfliktparteien gleich behandeln müssten. Ist das so?

Nein, die Neutralität ist keine sogenannte Gesinnungsneutralität. Wir können uns ganz eindeutig positionieren. Wir können auch Aggressoren verurteilen. Es gibt ja auch das Zitat von Desmond Tutu zum Beispiel, das die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock in der UNO-Generalversammlung genannt hat: Wer im Angesicht von Aggression und Ungerechtigkeit neutral bleibt, der bezieht durch diese Neutralität auch irgendwo Stellung. Und um ein leicht zynisches Beispiel zu nennen: Es kursiert online auch eine Stellungnahme der Taliban. Die haben eine derartige Neutralität vertreten und gesagt, auf Grundlage unserer Neutralität verurteilen wir weder den einen noch den anderen Staat und rufen zu einer friedlichen Lösung auf. Also diese Extremform von Neutralität, die gibt es zwar, ob man sich der aber verschreiben will, ist eine andere Frage.

Die eine Frage ist ja, ob man eine Aktion verurteilt und Stellungnahmen abgibt oder ob man zum Beispiel an wirtschaftlichen Sanktionen teilnimmt, wie es Österreich jetzt macht. Ist diese Teilnahme an Sanktionen mit der Neutralität vereinbar?

Diese Debatte hat sich beim EU-Beitritt gestellt und dann in den Jahren danach, wir haben das aber mittlerweile eindeutig für uns so geregelt, dass die Teilnahme an Wirtschaftssanktionen unsere Neutralität nicht verletzt.

Was dürfen wir denn als neutrales Land eindeutig nicht?

Ganz einfach ist, dass wir nicht der Nato beitreten dürfen und auch keine fremden Truppen dauerhaft auf unserem Gebiet stationiert haben dürfen oder fremde Militärbasen nicht auf unserem Gebiet stationieren dürfen. Das ist das Eindeutigste, was wir nicht dürfen.

Und was dürfen wir in diesem aktuellen Krieg nicht?

Da fangen wir mit einem Graubereich an. Da könnten oder da müssten wir jetzt sehr, sehr lang reden. Konkrete Fragen stellen sich zum Beispiel, wenn es Waffenlieferungen gäbe aus Österreich. Das wäre eine aktive militärische Unterstützung einer Konfliktpartei, das würde vor allem Russland nicht gefallen, da würde Russland uns auf die Schulter oder sonstwohin klopfen und sagen: Moment Leute, ihr seid immerwährend neutral, das geht jetzt zum Beispiel nicht.

Aber genau das macht jetzt das neutrale Schweden und das neutrale Finnland. Sie liefern Waffen an die Ukraine. Die sind auch neutral, warum dürfen die das und wir nicht?

Man muss zwischen den Begriffen Neutralität und Bündnisfreiheit unterscheiden. Das ist natürlich oft relativ nah beieinander, vor allem in der Praxis, aber Bündnisfreiheit wie bei Schweden und Finnland bedeutet vor allem: Wir treten keinem Militärbündnis bei, aber sonst nehmen wir uns schon mehr Spielraum heraus. Während Neutralität doch weitergreift und eben bedeutet, dass man in einem aktiven Konflikt nicht in irgendeiner Form militärisch zu stark eingreift. Oder eigentlich gar nicht eingreift.

Wir sind EU-Mitglied und die EU-Kommission will jetzt erstmals in einem Konflikt Waffen an die Ukraine liefern, um rund 500 Millionen Euro. Wir finanzieren das EU-Budget mit und wir finanzieren damit auch diese Waffen mit. Liefern wir damit nicht indirekt Waffen? Dürfen wir das?

Das ist eine sehr komplexe akademische Debatte, die jetzt auf einmal sehr real wird. Da gibts drei Argumentationen: Die eine ist zu sagen, nein, das geht nicht. Die andere ist, zu sagen, das ist zu mittelbar, also der Konnex zur Waffenbeschaffung ist nicht direkt genug, dass man sagen könnte, dass das unsere Neutralität verletzt. Und die dritte wäre die klassische österreichische Lösung, nämlich zu sagen, naja, wir finanzieren damit ja eigentlich den Wiederaufbau und zivile Güter und nicht direkt Waffen, sondern genau unser Anteil, den wir beitragen, der wird nicht verwendet, um Waffen zu kaufen.

Derzeit wird immer öfter über eine gemeinsame EU-Armee diskutiert? Dürften wir an einer solchen gemeinsamen EU-Armee teilnehmen? Bei den UNO-Blauhelmen sind wir ja auch dabei?

Sie sprechen da wirklich die ganz großen emotionalen Fragen an, die wir uns in Österreich schon sehr lange stellen. Da ist mal die Frage, was wäre so eine EU-Armee überhaupt? Wenn das bedeuten würde, dass man alle Streitkräfte zusammenfasst und die militärische Verantwortung aufteilt und sagen würde, dieses Land ist für die Panzer zuständig und jenes für die Luftabwehr – das geht nicht. Von einem neutralen Staat wird schon verlangt, dass er auch theoretisch die militärischen Mittel hat, sich selbst zu verteidigen und militärisch unabhängig zu bleiben. Wenn man damit nur die Zusammenarbeit meint, wie das zum Beispiel auch bei PESCO besprochen wurde, das ist ein Graubereich, wie weit man da gehen kann. Aber das legen wir für uns ja so aus, dass wir sagen, grundsätzlich ist die militärische Zusammenarbeit mit anderen Staaten, vor allem zu Friedenszeiten, noch kein Problem.

Aber es gibt ja schon jetzt im EU-Vertrag eine Beistandspflicht. Das heißt, wenn ein EU-Land angegriffen wird, müssen ihm die anderen helfen. Heißt das, Österreich müsste Soldaten schicken, wenn Russland sich jetzt auch noch entscheiden würde, auch noch im Baltikum – lauter EU-Mitglieder – einzumarschieren?

Ja, das ist die Frage: Müssen? Eine politische, moralische Verpflichtung gibt es da, ja. Aber im Endeffekt ist die Frage, wie man unterstützt, eine andere. Zynisch ausgedrückt kann ich mich an ein Gespräch mit einem Diplomaten erinnern, der mal gemeint hat, ja, zur Not schicken wir halt einen Beileidsbrief. Und ein viel wichtigeres Argument ist natürlich noch die „Irische Klausel“. Die sagt eindeutig, dass damit die jeweiligen Verteidigungspolitiken der Staaten nicht berührt sind und ein neutrales Land immer sagen kann: Moment, wir sind neutral, wir würden gern, aber wir können nicht.

Das heißt, wir müssten Lettland nicht militärisch Beistand leisten, wenn es angegriffen würde, aber wenn Österreich angegriffen wird, müsste Lettland uns schon Beistand leisten?

Ja. Wir sind sicherheitspolitischer Trittbrettfahrer. Oder, wenn Sie es ganz böse wollen und damit mache ich mir jetzt wahrscheinlich keine Freunde: Sicherheitspolitischer Schmarotzer.

An manchen Militäreinsätzen darf Österreich aber sehr wohl teilnehmen als neutrales Land. Zum Beispiel nach 9/11, beim internationalen Einsatz in Afghanistan waren auch österreichische Soldaten beteiligt.

Ja, aber nicht bei der militärischen Maßnahme gegen die Taliban, sondern danach bei der Stabilisierungsmission ISAF. Und die hatte als Grundlage eine Resolution des UN-Sicherheitsrats und das ist auch der Grund, warum wir zum Beispiel ohne Probleme UNO-Blauhelme entsenden können. Denn sobald der Sanktus des Sicherheitsrats und der Vereinten Nationen gegeben ist, sagen wir, dass die Neutralität – und das sagen wir nicht alleine, das ist allgemein akzeptiert – nicht ins Spiel kommt.

Aber steht das irgendwo oder haben wir uns das selber ausgedacht, dass das so geht?

Das haben wir uns einerseits selber ausgedacht, das gilt die sogenannte Frank-Sinatra-Doktrin: „I do it my way“, also wir interpretieren uns unsere Neutralität schon selbst. Man merkt aber auch, dass auch die Neutralitätsinterpretationen von anderen neutralen oder bündnisfreien Staaten genau dieselbe ist. Es ist also nicht so, dass wir das ganz alleine machen oder in einem kompletten Alleingang unterwegs sind. Die UNO hat eben so eine Sonderstellung, dass es zu weit gehen würde, wenn man sagt, bei Sanktionen, die von der UNO verhängt werden oder bei wichtigen Stabilisierungsmaßnahmen mit Blauhelmen, da kann man nicht mitmachen.

Wenn wir aber unsere Neutralität selbst interpretieren können, was wir für zulässig halten und was nicht, was kann dann ein Land tun, das nicht damit einverstanden ist? Das kann sich ja praktisch nur beim Internationalen Salzamt beschweren?

Oder es kann sich beim Außenministerium beschweren. Wenn wir zum Beispiel sehr weit gehen und die Ukraine auch militärisch unterstützen würden, dann würde Russland uns relativ bald, wie ich schon gesagt habe, auf die Schulter klopfen oder mehr als das uns sagen: Moment, immerwährend neutral, das heißt, das ihr euch nicht einmischt. Das heißt, die würden jetzt vielleicht kein internationales Gerichtsverfahren einleiten, aber sie würden schon andere Wege finden, um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen.

Aber welche Wege könnte es da geben. Österreich hat ja 1955 seine Neutralität bei allen Ländern, mit denen wir damals diplomatische Beziehungen hatten, quasi angemeldet und die haben das anerkannt. Sind wir dadurch eine konkrete Verpflichtung eingegangen oder können wir das trotzdem selbst interpretieren – oder was könnten diese anderen Länder tun?

Wir haben ein einseitiges Rechtsgeschäft abgeschlossen. Also wir haben den damaligen Staaten gesagt, wir versprechen euch, wir bleiben jetzt neutral und die anderen Staaten haben das zur Kenntnis genommen und sich gemeldet oder auch gar nicht darauf reagiert. Und jetzt ist die große Frage, wie würden man da rein theoretisch wieder rauskommen? Mit einem actus contrarius, also indem man sagt, wir nehmen aufgrund der geänderten Lage unser Versprechen wieder zurück. Mit einer gewissen Vorlaufzeit. Wir könnten nicht jetzt sagen, wir sind nicht mehr neutral, und morgen Waffen in die Ukraine schicken. Das wäre ein bisschen rechtsmissbräuchlich, ein bisschen Vertrauensschutz gibt es auch noch. Aber rein theoretisch ist das unsere souveräne Entscheidung, ob wir neutral bleiben wollen oder nicht.

Gilt das für alle Staaten? Die Neutralität steht ja nicht im Staatsvertrag, aber sie war realpolitisch eine Vorbedingung der Sowjetunion für diesen Staatsvertrag und es gibt das berühmte Moskauer Memorandum, in dem sich damals die österreichischen Verhandler im April 1955 in Moskau verpflichtet haben, dass sich Österreich nach Schweizer Vorbild für immerwährend neutral erklären wird. Nun gibts die Sojwetunion nicht mehr, die damals Verhandlungspartner war und die auch den Staatsvertrag unterschrieben hat, aber Russland ist quasi der Rechtsnachfolger der Sojwetunion. Hätte Moskau bei der Abschaffung der Neutralität – wenn man darüber nachdenken würde in Österreich – irgendwas mitzureden?

Nein. Natürlich würde Russland gewisse Argumente finden – man findet immer Argumente, wenn man welche sucht -, aber damals ging es ja genau darum, zu betonen, dass Österreich das aus freien Stücken tut. Und das bedeutet im Umkehrschluss, dass man eine Entscheidung, die man einmal freiwillig – egal wie freiwillig sie realpolitisch war – gemacht hat, auch wieder freiwillig zurücknehmen kann. Man hat es eben nicht in einen Vertrag gepackt, weil damit ja diese Freiwilligkeit in Zweifel gezogen werden könnte. Natürlich würde Russland theoretisch – wie man ja auch jetzt bei Finnland gesehen hat – in irgendeiner Form reagieren, vielleicht mit einer Drohung oder zumindest mal sagen, Moment, wir haben da ein Wörtchen mitzureden, aber wie gesagt: Etwas, was man freiwillig tut, kann man freiwillig auch wieder zurücknehmen.

Trotzdem hat Österreich, bevor es Ende der 1980er Jahre seinen Beitrittsantrag zur EU abgeschickt hat, in Moskau formell angefragt, ob wir das dürfen. Warum eigentlich?

Das war die Spätphase des Kalten Krieges, das war noch eine andere machtpolitische und realpolitische Konstellation und wir wollten uns gewissermaßen absichern und sind dann ganz fein rausgekommen, weil die ehemalige Sowjetunion in den 90er Jahren ganz andere Probleme hatte, als sich darum zu kümmern, ob wir der EU beitreten oder nicht.

Jetzt denkt in Österreich außer den Neos momentan niemand daran, die Neutralität abzuschaffen, sie gilt auch als eine Art heilige Kuh in der österreichischen Politik – aber falls es doch eine politische Mehrheit dafür gäbe: Wie könnte man die Neutralität abschaffen? Würde es dafür eine Volksabstimmung brauchen? Für die Einführung gab es ja keine Volksabstimmung damals.

Sie ist zwar ein Grundpfeiler unserer Verfassung und unserer Identität, sie ist aber nicht so elementar, dass es zu einer Gesamtänderung der Verfassung führen würde. Das bedeutet, man bräuchte eine Zweidrittelmehrheit im Nationalrat, die – wie Sie sagen – natürlich höchst unrealistisch ist. Und rein taktisch wäre es meiner Meinung nach auch klug, das Volk trotzdem auch zu befragen, eben weil die Neutralität der Bevölkerung so wichtig ist.

Aber das heißt, man könnte sie abschaffen – und die immerwährende Neutralität muss nicht immerwährend sein?

Ja, nichts im Leben hält für immer.

Falls wir tatsächlich die Neutralität einmal abschaffen sollten – brauchen wir dann einen neuen Nationalfeiertag? Den feiern wir ja deswegen am 26. Oktober, weil an diesem Tag im Jahr 1955 das Neutralitätsgesetz im Nationalrat beschlossen wurde.

Ja. Ich hätte auch manche Ideen. Ich weiß jetzt das Datum von Cordoba nicht auswendig, aber das würde sich zum Beispiel anbieten, das ist ja auch ein ganz nettes sinnstiftendes Identitätsmerkmal, das wir hierzulande haben.