Nun passiert es also doch. Das ORF-Gesetz kommt vor den Verfassungsgerichtshof. Genauer gesagt, jene Teile des Gesetzes, in denen die Bestellung von Stiftungsrat und Publikumsrat geregelt sind. Das Land Burgenland hat heute einen sog. „Antrag auf Normenkontrolle“ beim Höchstgericht beschlossen, also laienhaft gesagt eine Verfassungsklage wegen des zu großen Einflusses der Politik auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Auf insgesamt 44 Seiten wird hier detailliert begründet, weshalb die Bestellung der ORF-Aufsichtsgremien dem Rundfunk-Verfassungsgesetz und der Europäischen Menschenrechtskonvention widerspricht. Kurz gefasst: Weil das Gesetz nicht sicherstellt, dass die ORF-Gremien ausreichend „staats- und regierungsfern“ sind.
Ich teile diese Argumentation weitestgehend – wie ich hier ausführlich erklärt habe – und trotzdem war ich von der Klage überrascht. Der mutmaßlich verfassungswidrige Einfluss „der Politik“ auf den ORF ist nämlich nicht leicht vor das Höchstgericht zu bringen. De facto geht das nur über ein solches „Normenkontroll“-Verfahren. Dafür braucht es aber ein Drittel des Nationalrats oder den Beschluss einer Landesregierung. Es kann also nur die Politik selbst ihren eigenen Einfluss auf den ORF juristisch bekämpfen. Gelernte Österreicher·innen wissen: Nicht sehr wahrscheinlich.
Nun hat die burgenländische Landesregierung relativ wenig Macht im ORF-Stiftungsrat (sie darf eines von 35 Mitgliedern bestellen), aber Landeshauptmann Doskozil ist auch ein gewichtiger und machtbewusster SPÖ-Politiker. Und wann und wo immer die SPÖ bisher in einer Regierung saß, störte sie ihr Einfluss auf den ORF keineswegs. Das räumt auch Doskozil ein: „Natürlich hat es auch in der Vergangenheit immer wieder Versuche der politischen Einflussnahme gegeben – niemand ist so blauäugig, das zu bestreiten.“ (Doskozils Vorgänger Hans Niessl etwa hat einst mit Nachdruck am Abgang des langjährigen ORF-Landesdirektors Karlheinz Papst arbeiten lassen. Doskozil selbst war letztes Jahr mit seinem Wunsch nach einem neuen Landesdirektor weniger erfolgreich.)
Als Oppositionspartei ist die SPÖ im Bund derzeit relativ machtlos (auch in den ORF-Gremien), aber sie kann ja durchaus auf eine Rückkehr an die Regierung irgendwann hoffen, möglicherweise sogar als stärkste Partei. Sollte jedoch der Antrag des Landeshauptmanns vor dem Höchstgericht durchgehen, wird das Ergebnis auch die Macht seiner eigenen Partei in künftigen ORF-Gremien begrenzen.
Deshalb hatte ich nicht damit gerechnet, dass es zu einer solchen Verfassungsklage kommen würde. Doskozil begründet sie mit den kürzlich bekannt gewordenen türkis-blauen und türkis-grünen „Sideletters“ zum ORF, die gezeigt hätten, „dass zuletzt Grenzüberschreitungen üblich wurden, die demokratiepolitisch und verfassungsrechtlich schwer bedenklich, aber durch das ORF-Gesetz gedeckt sind“.
Nun ist die Klage jedenfalls da. Das Verfassungsgericht muss das ORF-Gesetz überprüfen. Und das wird hochspannend.
WIE STEHEN DIE CHANCEN?
Verfassungs-Experte Heinz Mayer hält einen Erfolg vor dem Höchstgericht laut KURIER zumindest für „möglich“. Doskozil selbst sagt in der PRESSE (€): „Ich bin nicht hundertprozentig sicher, dass wir mit der Klage durchdringen. Aber ich glaube, es ist höchste Zeit, dass der VfGH […] diese Frage einmal beurteilt.“
Die Beschwerde seiner Landesregierung ist jedenfalls ausführlich, strukturiert und detailliert begründet (ganz im Gegensatz zu einer blamabel gescheiterten Verfassungsklage des Landes Wien im Jahr 2003) und sie argumentiert im Wesentlichen so:
Auf Basis der geltenden Bestimmungen im ORF-Gesetz (ORF-G) könne stets die Bundesregierung alleine eine Mehrheit der 35 Stiftungsräte und der 30 Publikumsräte nominieren. Gleichzeitig gäbe es für die Mitglieder der ORF-Gremien keine verpflichtenden Qualifikationen, für ihre Auswahl kein transparentes Verfahren und keine Berufungsmöglichkeit gegen ihre Bestellung. (Was übrigens nicht angefochten wird, ist das fragwürdige Anhörungsrecht der Länder bei der Bestellung von ORF-Landesdirektor·innen). Das alles widerspricht nach Ansicht der burgendländischen Landesregierung gleich zwei wesentlichen Verfassungsbestimmungen. Zum einen dem Verfassungsgesetz zur Sicherung der Unabhängigkeit des Rundfunks von 1974 (BVG-Rundfunk). Wörtlich heißt es dazu in der Beschwerde:
„Es ist mit dem Wesen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als einem nach außen und innen pluralistisch aufgebauten Medienunternehmen unvereinbar, wenn eine Gruppe dieses Rundfunkunternehmen – das eben als öffentlich-rechtlicher Rundfunk und nicht als Regierungsfunk intendiert ist – dominieren und kontrollieren kann. […] Wegen der gegenwärtigen Ausgestaltung des § 20 Abs. 1 ORF-G ist die absolute Mehrheit des Gremiums der Regierung zuzurechnen. Damit besteht eine Abhängigkeit gegenüber der Regierung und wird der Anforderung des Art. I Abs. 1 BVG-Rundfunk nicht Genüge getan.“
„FREUNDESKREISE“ ALS „INDIZ“
Auch dass die Stiftungsrät·innen in Partei-„Freundeskreisen“, also in politischen Fraktionen, organisiert sind, würde die verfassungsgemäß verlangte Unabhängigkeit unterlaufen, ebenso die laut Gesetz verpflichtend offenen Abstimmungen:
„Diese (partei-)politischen Zusammenschlüsse von Stiftungsräten sind Indiz dafür, dass die Willensbildung im Stiftungsrat keineswegs unabhängig sondern von parteipolitischen Überlegungen und parteipolitischer Koordination geleitet ist. […] Aus den gleichen Überlegungen problematisch ist das Verbot der geheimen Abstimmung: die erzwungene Offenlegung des Abstimmungsverhaltens der einzelnen Stiftungsräte ist geeignet, diese unter Druck zu setzen und ist der freien Entscheidungsfindung abseits (partei-)politischer Vorgaben nicht zuträglich.“
Die im ORF-Gesetz festgeschriebene Weisungsfreiheit der Stiftungsräte (das zentrale Argument der Regierung) würde jedenfalls nicht genügen, um ihre Unabhängigkeit zu garantieren:
„Abhängigkeit ist mehr als nur Weisungsgebundenheit, Abhängigkeit manifestiert sich in finanzieller Abhängigkeit aber auch ideologischer Abhängigkeit und Abhängigkeit in der öffentlichen Wahrnehmung und Wertschätzung. Insbesondere für die Abhängigkeit in der öffentlichen Wahrnehmung ist maßgeblich, welche gesellschaftliche Gruppe einzelne Stiftungsräte bestellt …“
DAS PROBLEM MIT „POLITICAL BIAS“
Das sind laut Klage die wesentlichen Punkte, die das BVG-Rundfunk von 1974 unterlaufen. Aber das ORF-Gesetz widerspreche auch der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die in Österreich ein Teil der Verfassung ist:
„Der [Europäische Menschenrechts-]Gerichtshof erachtet political bias (politische Einflussnahme, Parteilichkeit, politische Voreingenommenheit) als unvereinbar mit den Anforderungen des Art. 10 EMRK. Prüfungsgegenstand ist in diesem Zusammenhang nicht die tatsächliche Einflussnahme auf die journalistische Arbeit, sondern es sind die Regeln für die Bestellung. […] Konkret fordert der EGMR ‚safeguards against political bias’ (etwa: ‚Garantien gegen politische Einflussnahme’) um eine Verletzung von Art. 10 EMRK zu verhindern. Nach Ansicht der Burgenländischen Landesregierung lässt das ORF-G sowohl bei der Zusammensetzung des Stiftungsrates als auch bei der Zusammensetzung des Publikumsrates derartige ‚safeguards‘ vermissen.“
WIE MOLDAWISCH IST ÖSTERREICH?
Ausdrücklich bezieht sich die Klage dabei auf eine konkrete Entscheidung des Menschenrechtsgerichtshofs gegen die Republik Moldau: Den – unter Rundfunkjurist·innen berühmten – „Fall Manole“, in dem der EGMR einen zu großen Einfluss der Regierung auf den moldawischen Rundfunk festgestellt hat:
„Es liegt der Burgenländischen Landesregierung fern, die Ausgestaltung des § 20 ORF-G mit dem verfahrensgegenständlichen Sachverhalt in Moldawien gleichzusetzen. Der EGMR setzt sich jedoch so grundsätzlich mit der politisch einseitigen Besetzung von Aufsichts- und Kontrollorganen von (öffentlich-rechtlichen) Rundfunkunternehmen auseinander, dass seine Wertung von der moldawischen Situation losgelöst und auf die Beurteilung des ORF-Stiftungsrates angewendet werden kann.“
Damit widerspricht die Klage frontal einer Einschätzung des Verfassungsdienstes im Bundeskanzleramt, der behauptet, dass der „Fall Manole“ keinerlei Bedeutung für das ORF-Gesetz hätte.
DER PRÄSIDENT ALS ZEUGE
Und mehrfach wird in der Beschwerde an das Verfassungsgericht ausgerechnet dessen Präsident Christoph Grabenwarter zitiert (aus einer Analyse zur Rundfunkfreiheit in Deutschland, die Bezug auf den „Fall Manole“ nimmt):
„Es ist insofern Grabenwarter zuzustimmen, der aus dem Erkenntnis des Gerichtshof allgemein ableitet, Art. 10 EMRK verpflichte dazu, durch gesetzliche Ausgestaltung die Vielfalt im Rundfunk zu gewährleisten und diese Pflicht insbesondere nicht dadurch zu unterwandern, dass eine gewichtige ökonomische oder politische Gruppe oder der Staat eine dominante Position über eine Rundfunkanstalt oder innerhalb einer Rundfunkanstalt einnimmt und hiedurch Druck auf die Veranstalter ausüben kann. Herrscht in den Organen eine große Mehrheit von Vertretern der Regierungspartei(en), wird Art.10 EMRK verletzt (vgl. Grabenwarter, Rundfunkfreiheit 812).“
VfGH-Präsident Grabenwarter, ein international renommierter Experte für Rundfunkrecht, wurde übrigens vor einigen Wochen in einem Ö1-Interview zu seiner (auf Deutschland bezogenen) Analyse befragt und sagte damals:
„Jetzt liegt zwar Österreich zwischen Moldawien und Deutschland. Aber es ist damit noch nicht gesagt, dass diese Aussage, die ich dort zitiert habe, eins zu eins auf Österreich übertragbar ist. […] Wichtig ist, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk als ein Teil der Medienfreiheit, der besonders prekär ist, dass dieser öffentlich-rechtliche Rundfunk eine hinreichend garantierte Staatsferne hat. […] Kann sein, dass das wieder vor den Verfassungsgerichtshof kommt, daher möchte ich mich hier wirklich zurückhalten.“
Jetzt kommt die Frage tatsächlich wieder vor den Verfassungsgerichtshof. Wie bei allen Entscheidungen ist Grabenwarter als Präsident nicht stimmberechtigt. Aber auch der Verfasser der „Klagschrift“ hat einen interessanten Bezug zum Thema: Florian Philapitsch, der Leiter des burgenländischen Verfassungsdienstes, war jahrelang stellvertretender Vorsitzender der Medienbehörde KommAustria, die auch den ORF kontrolliert – und er gilt als einer der kompetentesten Rundfunkjuristen des Landes. Bei einer mündlichen Verhandlung vor dem Höchstgericht wird er das Burgenland vertreten.
PS: Zwei weitere Beschwerden gegen das ORF-Gesetz könnten mittelfristig noch vor dem VfGH landen (wenn nicht schon vorher der direkte Antrag aus dem Burgenland erfolgreich ist). Der Presseclub Concordia versucht es über eine sogenannte „Popularbeschwerde“ von mindestens 120 GIS-Zahler·innen bei der KommAustria. Sollte diese abgewiesen werden, könnte der Instanzenzug über das Bundesverwaltungsgericht zum Verfassungsgerichtshof führen.
Und die Universitätenkonferenz beschwert sich – ebenfalls bei der KommAustria – über die Zusammensetzung des Publikumsrats, in den mehrere Mitglieder ja offenkundig unter Missachtung der gesetzlichen Vorgaben bestellt wurden. Auch dieses Verfahren könnte letztlich vor dem Höchstgericht enden.