Für eine Sommerserie über die „geheimen Leidenschaften“ von Medienmenschen hat mich das immer lesenswerte Medienportal Übermedien um einen kleinen Text gebeten – und ich habe ein Geständnis abgelegt. 😉
SÜCHTIG NACH TIKTOK
TikTok ist die Hölle. Glauben Sie einem demnächst 57-Jährigen. Ich habe keine Erfahrung mit herkömmlichen Drogen oder anderen Substanzen, die süchtig machen. Aber der Algorithmus von TikTok ist die Hölle. Auf Speed.
Jeden Abend, bevor ich – als Moderator einer Spätnachrichten-Sendung eher spät – ins Bett gehe, schaue ich noch fünf Minuten auf TikTok. Ich darf das, ich habe dafür eine tadellos seriöse Begründung: In der ORF-Chefredaktion bin ich für unsere Social-Media-Auftritte verantwortlich, auch für einen extrem populären TikTok-Kanal, und logischerweise checke ich regelmäßig, was wir da tun.
Das Problem ist: Ich sehe die – exzellent gemachten – Videos der „Zeit im Bild“ nur, wenn ich aktiv danach suche. In meinem „Für dich“-Feed sind die nämlich nie. Da wird sehr viel getanzt (haben Sie schon mal Alfonso Ribeiro in der US-Version von „Dancing with the Stars“ gesehen? Unglaublich! Oder die Gardiner Brothers? Miranda Derrick?), es wird getrommelt (El Estepario Siberiano !!!), in den Talks-Shows von Graham Norton oder Jimmy Fallon gequatscht, in Casting-Shows unfassbar gut gesungen, für manuell minderbegabte Menschen wie mich geschraubt (Do-it-yourself-Life-Hacks ohne Ende!), von grotesk fitten Männern über fünfzig geturnt, von asiatischen Magier·innen Tischtennis gespielt und ziemlich viel gekämpft (WingTsun, Krav Maga, Kung Fu).
Ich sehe täglich neue Apartments in Manhattan (sehr schicke um mehrere Millionen, sehr geschmacklose um sehr viele Millionen und echte Löcher um 5.000 Dollar monatliche Miete) und Komodowarane, die ganze Schweine verschlucken. Unzerkaut.
Noch nie ist mir auf Tiktok die „Tagesschau“ begegnet. Oder die „New York Times“. Ich weiß, es liegt an mir. Hätte ich mal zufällig ein „Tagesschau“-Video gesehen und wäre bis zum Ende drauf geblieben, käme sie jetzt regelmäßig daher. Aber der Algorithmus von TikTok ist gnadenlos. Und das Tempo macht dich fertig.
Wenn dir ein Video in den ersten drei Sekunden nicht gefällt – weiter! Und weiter! Und weiter! Aber spätestens dann kommt wieder was, wo du einfach nicht wegschauen kannst. Und wenn du nach fünf Minuten auf die Uhr schaust, sind 25 Minuten vorbei. Oder 30. Manchmal auch 60.
Ich bin ein erwachsener Mensch und an sich nicht suchtaffin: kein Alkohol, kein Nikotin, keine Drogen, keine Spielsucht. Aber wenn ich die TikTok-App mal offen habe, kriege ich sie kaum wieder zu. Ich muss mich regelrecht dazu zwingen. Oder die Augen fallen mir zu, weil es Richtung halbdrei geht. Und ich fühle mich danach, als hätte ich ein Kilo Marshmallows verschlungen. Bunt, pickig, süß, dreieinhalbtausend Kalorien – und zero nahrhaft.
Dabei haben wir noch kein Wort über Datensicherheit geredet. Und über China.
TikTok ist die Hölle. Aber verdammt gut gemacht.
Dieser Text ist erstmals am 17.8.2023 auf uebermedien.de erschienen. (Illustration: Christoph Rauscher, Foto: Peter Rigaud)