Das Buch zum Beruf

Im Mai 1985, unmittelbar nach meiner Matura, habe ich als freier Mitarbeiter im ORF-Landesstudio Tirol begonnen. Im Herbst 85 schickte mich mein Chefredakteur zwei Mal für zwei Wochen nach Wien – auf den „Journalistischen Grundkurs“ des Kuratoriums für Journalistenausbildung, damals die einzige ernstzunehmende Journalistenausbildung, die es in Österreich gab.

Die bekanntesten Print-, Radio- und Fernsehleute des Landes unterrichteten dort jedes Jahr etwa dreißig Newcomer in den Grundlagen des Handwerks, vom Nachrichten-Schreiben über Kommentar, Reportage und Interview bis zum Medienrecht. Zum ersten Mal war ich Jungspund damals auch im Parlament und bei einem Ministerrats-Foyer (mit Kanzler Vranitzky).

Der Erfinder und Leiter dieses Lehrgangs hieß Heinz Pürer und schon am ersten Tag verteilte er an alle Teilnehmer·innen ein dickes blaues Buch, auf dem sein Name als Herausgeber stand und der Titel „Praktischer Journalismus in Zeitung, Radio und Fernsehen“.

Cover 1984Es war eine Art gedruckte Zusammenfassung des Lehrgangs. Nahezu alles, was damals in der österreichischen Medienbranche Rang und Namen hatte, zählte zu den Autoren. „Autoren“ und „nahezu alles“, weil im Inhaltsverzeichnis 52 Männer standen und zwei Frauen. Heinz Pürer hatte die renommiertesten Chefredakteure und Ressortleiter gebeten, in seinem Lehrgang zu unterrichten und für das Buch zu schreiben – und das waren Anfang der 1980er Jahre beinahe ausschließlich Männer.

Der Band, der 1984 erstmals erschien und in der Branche bald nur noch „der Pürer“ hieß, wurde schnell zum Klassiker. Alle paar Jahre kamen aktualisierte Neuauflagen heraus, in immer neuen Farben (grün, rot, weiß). Zuletzt 2004, damals wurde der Buchtitel auch um „Online“ erweitert. Generationen österreichischer Journalist·innen haben mit dem „Pürer“ ihr Handwerk erlernt.

Genau vierzig Jahre nach der ersten und zwanzig Jahre nach der bisher letzten Auflage gibt es dieses Standardwerk jetzt wieder.

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Wer ist Kamala Harris?

Nun hat Joe Biden doch seine Kandidatur zurückgezogen – erst als dritter US-Präsident in einem laufenden Wahlkampf (Truman 1952 und Johnson 1968 gab ihren überraschenden Verzicht allerdings schon Ende März bekannt). Wer ihm als Kandidat der Demokraten nachfolgt, entscheidet formal der Wahlparteitag ab 19. August in Chicago. Aber Biden hat schon heute seine Vizepräsidentin Kamala Harris vorgeschlagen – und damit wohl de facto einzementiert.

Gegen den mehrfach verurteilten Donald Trump wäre Harris an sich eine Kandidatin wie von Wahlkampf-Strategen auf dem Reißbrett entworfen: eine ehemalige Staatsanwältin und Chefanklägerin mit dem Image „tough on crime“ zu sein, eine Frau, schwarz, mit asiatischen Wurzeln.

Und trotzdem schlägt ihr – auch in ihrer eigenen Partei – sehr viel Skepsis entgegen. Als Vizepräsidentin hat sie sich nach anfänglichen Patzern kaum profiliert, ihre öffentlichen Auftritte wirken mitunter seltsam und ihre Umfragewerte sind kaum besser als die des Präsidenten. Aber es gibt auch US-Kommentator·innen, die Harris für schwer unterschätzt halten: Jenseits großer Bühnen sei sie charismatisch, schlagfertig, klug, fleißig und präzise – und ihr Imageproblem sei auch vom Weißen Haus produziert.

Sehr viel davon findet sich in diesem sehr langen, differenzierten und lesenswerten Porträt vom vergangenen Herbst, das informativste, das ich bisher kenne.

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THE ATLANTIC, 10.10.2023

„Sind Sie sicher, dass Sie ehrlich mit sich selber sind?“

Jemanden, der 81 Jahre alt ist und offensichtlich nicht mehr hundertprozentig fit, danach zu fragen, ob er körperlich und geistig noch in der Lage ist, seinen Job zu machen, ist ziemlich heikel. Wenn der 81jährige der Präsident der Vereinigten Staaten ist, die Befragung gute zwanzig Minuten lang dauert und viele Millionen Menschen dabei zuschauen, ist es noch sehr viel heikler.

Die Gefahr, dabei nicht den richtigen Ton zu treffen, als respektlos und unhöflich zu erscheinen – gerade bei den vielen Fernseh-Zuseher·innen in einem ähnlichen Alter – ist riesig. Und die Gefahr, genau deswegen nicht kritisch und beharrlich genug zu sein, ebenso.

Nach seinem Debatten-Debakel gegen Donald Trump Ende Juni und der immer lauteren Diskussion über seinen Gesundheitszustand, musste US-Präsident Biden die Wählerschaft, seine Partei und die Medien beruhigen – mit einer überzeugenden Performance, die zeigen sollte, dass das Desaster vor über fünfzig Millionen Zuseher·innen eine Woche zuvor nur ein einmaliger Ausrutscher war. Eine „bad night“, wie Biden seither ständig wiederholt.

Das Biden-Team entschied sich für ein Interview mit dem ABC-Starmoderator George Stephanopoulos, einem der angesehensten Interviewer des Landes. Biden kennt ihn ewig, weil Stephanopoulos vor seinem Wechsel in den Journalismus einer der wichtigsten Berater des damaligen Präsidenten Bill Clinton war. Berühmt geworden ist er als einer der zentralen Akteure in der fantastischen Dokumentation The War Room über den ersten Clinton-Wahlkampf. Stephanopoulos gilt auch als Inspiration für die Figur von Sam Seaborn in der genialen Serie West Wing. Und seine frühe politische Autobiografie über die Jahre mit Clinton aus dem Jahr 1999 ist noch immer lesenswert. Nach seinem Ausstieg aus der Politik vor 25 Jahren wurde er zuerst Kommentator beim Fernsehsender ABC und bald der Star-Interviewer des Networks.

Das erste Interview mit Joe Biden seit der Trump-Debatte wurde live to tape geführt, also aufgezeichnet, aber nicht gekürzt. Es war klar, dass Biden rasch ein ausführliches TV-Interview geben musste, um seinen Kritiker·innen etwas entgegenzuhalten. Bei allen offiziellen Auftritten vor Publikum liest der Präsident vorgeschriebene Texte von einem Teleprompter. Nur mit spontanen Antworten auf Fragen, die er nicht vorab kennt – und das länger als nur ein paar Minuten im Vorbeigehen -, ließ sich demonstrieren, dass Biden so geistig wach, flexibel und firm in den Themen ist, wie sein Team und er selber ständig betonen.

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