Jemanden, der 81 Jahre alt ist und offensichtlich nicht mehr hundertprozentig fit, danach zu fragen, ob er körperlich und geistig noch in der Lage ist, seinen Job zu machen, ist ziemlich heikel. Wenn der 81jährige der Präsident der Vereinigten Staaten ist, die Befragung gute zwanzig Minuten lang dauert und viele Millionen Menschen dabei zuschauen, ist es noch sehr viel heikler.
Die Gefahr, dabei nicht den richtigen Ton zu treffen, als respektlos und unhöflich zu erscheinen – gerade bei den vielen Fernseh-Zuseher·innen in einem ähnlichen Alter – ist riesig. Und die Gefahr, genau deswegen nicht kritisch und beharrlich genug zu sein, ebenso.
Nach seinem Debatten-Debakel gegen Donald Trump Ende Juni und der immer lauteren Diskussion über seinen Gesundheitszustand, musste US-Präsident Biden die Wählerschaft, seine Partei und die Medien beruhigen – mit einer überzeugenden Performance, die zeigen sollte, dass das Desaster vor über fünfzig Millionen Zuseher·innen eine Woche zuvor nur ein einmaliger Ausrutscher war. Eine „bad night“, wie Biden seither ständig wiederholt.
Das Biden-Team entschied sich für ein Interview mit dem ABC-Starmoderator George Stephanopoulos, einem der angesehensten Interviewer des Landes. Biden kennt ihn ewig, weil Stephanopoulos vor seinem Wechsel in den Journalismus einer der wichtigsten Berater des damaligen Präsidenten Bill Clinton war. Berühmt geworden ist er als einer der zentralen Akteure in der fantastischen Dokumentation The War Room über den ersten Clinton-Wahlkampf. Stephanopoulos gilt auch als Inspiration für die Figur von Sam Seaborn in der genialen Serie West Wing. Und seine frühe politische Autobiografie über die Jahre mit Clinton aus dem Jahr 1999 ist noch immer lesenswert. Nach seinem Ausstieg aus der Politik vor 25 Jahren wurde er zuerst Kommentator beim Fernsehsender ABC und bald der Star-Interviewer des Networks.
Das erste Interview mit Joe Biden seit der Trump-Debatte wurde live to tape geführt, also aufgezeichnet, aber nicht gekürzt. Es war klar, dass Biden rasch ein ausführliches TV-Interview geben musste, um seinen Kritiker·innen etwas entgegenzuhalten. Bei allen offiziellen Auftritten vor Publikum liest der Präsident vorgeschriebene Texte von einem Teleprompter. Nur mit spontanen Antworten auf Fragen, die er nicht vorab kennt – und das länger als nur ein paar Minuten im Vorbeigehen -, ließ sich demonstrieren, dass Biden so geistig wach, flexibel und firm in den Themen ist, wie sein Team und er selber ständig betonen.
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Der Präsident war im Gespräch deutlich besser als in der Debatte mit Trump, nicht annähernd so zerstreut, verwirrt und abwesend. Aber ob dieser eine Auftritt genügen wird, seine Partei und das Land zu beruhigen, darf man bezweifeln. Übrig bleibt für die meisten Zuseher·innen wohl vor allem der mehrfach wiederholte Satz, nur „Lord Almighty“ könne ihn davon überzeugen, seine Kandidatur zurückzuziehen. Als wäre es Gottes Wille, dass er nocheinmal antritt.
Biden zählt immer wieder auf, was er in den letzten dreieinhalb Jahren als Präsident geleistet hat (wobei zur NATO-Erweiterung der Beitrag Putins wohl deutlich größer war). Auf das Argument, dass es bei der Wahl um die nächsten vier Jahre gehe und nicht um die vergangenen vier, steigt er de facto nicht ein. Seine katastrophalen Umfragewerte will er – gegen jede Evidenz – schlicht nicht glauben. In diesem Interview wirkt Biden jedenfalls nicht so, als würde er demnächst aus dem Wahlkampf aussteigen, obwohl zahllose Kommentator·innen und immer mehr Parteifreunde ihm das ganz dringend raten. Oder wie es Stephanopoulos formuliert:
„Immer mehr Demokraten denken, dass Sie ein großartiger Präsident waren mit vielen Erfolgen. Aber sie machen sich Sorgen um Sie und um das Land. Und sie denken, Sie können nicht gewinnen. Sie wollen, dass Sie in Würde abtreten und würden Sie dafür feiern. Was antworten Sie darauf?
Mich hat an diesem Gespräch vor allem die Strategie des Interviewers interessiert, eben weil das Thema so heikel war. Und Stephanopoulos hat geradezu ein Lehrbeispiel geliefert (hier das vollständige englische Transkript): Er stellt alle unangenehmen Fragen zu Bidens Gesundheitszustand und mentaler Fitness, bleibt dabei stets respektvoll und höflich, fragt aber beharrlich, gut informiert, mit Belegen und schlagfertig nach.
Immer wieder geht es logischerweise um die zentralen beiden Themen: „Sind Sie sicher, dass Sie selber mit sich ehrlich sind, wenn Sie sagen, dass Sie die mentalen und physischen Fähigkeiten haben, weitere vier Jahre zu amtieren?“ „Sind Sie heute gebrechlicher?“ „Wären Sie bereit, sich einer unabhängigen medizinischen Untersuchung mit neurologischen und kognitiven Tests zu unterziehen und die Ergebnisse zu veröffentlichen?“
Und: „Sind Sie auch ehrlich zu sich selbst in der Frage, ob Sie Donald Trump heute noch schlagen können?“ „Haben Sie sich selbst davon überzeugt, dass Sie der einzige sind, der gegen ihn gewinnen kann?“ „Ist es das Risiko wert?“
Besonders gelungen finde ich zwei Fragen gegen Ende des Interviews, in denen Stephanopoulos den Präsidenten an seinen eigenen Argumenten misst: „Ihr wichtigster Punkt gegen Trump ist, dass es ihm immer nur um sich selber geht, dass er seine persönlichen Interessen über die Interessen des Landes stellt. Was antworten Sie Kritikern, die sagen, mit Ihrem Beharren auf Ihrer Kandidatur, machen Sie genau das Gleiche?“ Und: „Wenn Sie antreten und Trump doch gewählt wird – und alles passiert, vor dem Sie so warnen: Wie wird es Ihnen dann im Jänner gehen?“
In amerikanischen Medien wird Stephanopoulos für sein Interview durchgehend gelobt. Joe Biden weniger.