Team Radio Tirol-Sommerradio 1987

Aus der 5d ins Radio

Vor 100 Jahren kam das Radio nach Österreich – und nach Tirol. Zu diesem Jubiläum hat der Zeithistoriker und ORF-Tirol-Redakteur Benedikt Kapferer, den ich vor einigen Jahren als außergewöhnlich talentierten Praktikanten in der ZiB2-Redaktion kennengelernt habe, ein sehr schönes Buch geschrieben (das auf einer Forschungsarbeit für die Uni Innsbruck beruht).

Buch-Cover„Das Mikrofon im Dorf“ ist wahrscheinlich für Menschen, die Tirol, seine Radiosender, die eine oder andere (frühere) Sendung und deren Macher·innen kennen, interessanter als für andere, aber es ist ein exzellent recherchierter, informativer, mit vielen Fotos illustrierter und sehr lesbar geschriebener Überblick zur Geschichte des Hörfunks in Tirol, von den technischen Anfängen, über die turbulente Nachkriegszeit (in der der Bruder des Ex-Kanzlers Schuschnigg das Innsbrucker Studio leitete) über die Südtiroler Piratenradios der 1980er und 90er Jahre bis zur heutigen Audio-Landschaft.

Ein großartiges Stück Zeitgeschichte ist ein (auch im Original abgedruckter) Aktenvermerk des legendären Landeshauptmanns Wallnöfer über sein Treffen mit dem damals neubestellten ORF-Generalintendanten Gerd Bacher, bei dem die beiden selbstbewussten Granden stritten, wie sehr „Walli“ bei der Besetzung des Chefs in “seinem” Landesstudio mitentscheiden dürfe (gar nicht, fand Bacher; ja, wer denn sonst, fand Wallnöfer. Bacher setzte sich durch.)

Der gut gelaunte Mann am Cover des Buches ist übrigens der junge Ernst Grissemann, der später in Wien Ö3-Chef wurde, dann Radiointendant und als „the voice“ im ganzen Land berühmt – der aber einst im Innsbruck Landesstudio begonnen hat, wie Axel Corti, Dietmar Schönherr oder Krista Hauser. Ich übrigens auch, direkt nach meiner Matura im Haus nebenan (wo auch Andi Knoll Rechnungswesen, BWL und Maschinschreiben lernte, bevor er bei „Radio Transalpin“ startete) – und Benedikt Kapferer hat mich gebeten, für sein Buch einen kleinen Gastbeitrag über meine zweieinhalb Jahre im Landesstudio zu schreiben. Das habe ich sehr gerne gemacht – hier ist er (mit Erlaubnis des Tyrolia-Verlags):


AUS DEM FENSTER DER HANDELSAKADEMIE

Aus dem Fenster der Maturaklasse 5d in der Innsbrucker Handelsakademie konnte ich hinunterschauen auf das Dach des ORF-Landesstudios am Rennweg. Nur der kleine Schulparkplatz mit den Dutzenden Vespas trennte die beiden Gebäude. Im Frühling 1985, kurz vor meiner Matura, marschierte ich die paar Schritte hinüber zu einer Audienz bei Siegfried „Sigi“ Wagner, dem legendären silberbärtigen Chefredakteur von ORF Tirol.

Ich hätte nebenan vor vier Jahren eine Schülerzeitung gegründet, erzählte ich ihm, in Wien hatte ich Seminare über Zeitungmachen besucht und würde mich sehr für Journalismus interessieren. Könnte ich vielleicht neben meinem Studium als freier Mitarbeiter beim ORF beginnen? Das Risiko wäre ja gering, ich würde ohnehin nur bezahlt, wenn etwas von mir auch wirklich auf Sendung ginge. Erstaunlicherweise sagte der wichtige Chefredakteur „Ja“. Am Tag nach meiner schriftlichen Matura trat ich zum Dienst an. Es war Mai 1985, ich war 18.

Männersache

Der „Aktuelle Dienst“, also die Lokalredaktion des ORF Tirol, war damals fest in Männerhand: Chefredakteur Wagner hatte ein Einzelzimmer, die Redakteure Wolfgang Schopper, Helmut Krieghofer, Markus Sommersacher, Volkmar Rachlé und Gerald Aichner, zuständig für Landespolitik und Chronikales, saßen gemeinsam in einem großen Büro. Für die aktuelle Kulturberichterstattung war Theo Braunegger verantwortlich, für den Sport der weit über Tirol hinaus bekannte Manfred Gabrielli. Eine einzige Reporterin war damals fest angestellt: Gudrun Seelos, die ich vom Sehen kannte, weil sie im Olympischen Dorf im Hochhaus neben uns wohnte.

“Tirol heute“ existierte noch drei Jahre lang nicht, die wichtigste Sendung des Aktuellen Dienstes war die Radio-„Landesrundschau“ zu Mittag nach „Autofahrer unterwegs“. Nur alle paar Tage produzierte das Landesstudio einen Fernsehbeitrag für „Österreich heute“ und alle zwei, drei Monate ein halbstündiges „Österreich-Bild“.

Fernschreiber, Festnetz und Fax

Im Aktuellen Dienst herrschte ein striktes Regiment. Der langjährige Chefredakteur war eine Autorität und wurde als „Herr Wagner“ gesiezt, während er seine Redakteure mit Nachnamen duzte: „Krieghofer, kimsch amol!“, „Schopper, wos isch des jetz wieda?“ Die Agenturmeldungen ratterten über Fernschreiber in die Redaktion, recherchiert wurde am Festnetztelefon, schriftliche Infos kamen aus dem Fax, die Manuskripte tippte man auf Schreibmaschinen. Im gesamten Landesstudio gab es noch keinen Computer. Aktualität war nicht immer das oberste Gebot: Ein Kollege, dem das Aufstehen schwerfiel, nahm die Früh-Nachrichten regelmäßig bereits am Vorabend auf. Das änderte sich, als ein katastrophaler Autounfall mitten in der Nacht in der morgendlichen „Landesrundschau“ erstaunlicherweise nicht vorkam.

Von Pressekonferenzen und Interviews kehrten die Reporter mit Tonbändern oder Kassetten zurück, die erst ausschnittweise auf Studiobänder überspielt werden mussten, um sie dann – tatsächlich mit Schere und Klebeband – zu fertigen Beiträgen zu schneiden. Das erledigten Herren in weißen Arbeitsmänteln mit ORF-Logo auf der Brust: die Tonmeister. Herr Ingenieur Steinhäuser war eine Respektsperson, das Ersuchen, einen Beitrag in seinem Studio aufnehmen und schneiden zu dürfen, war höflich und mit ausreichend zeitlichem Vorlauf vorzubringen.

Junge Wilde

Doch zwei Stockwerke über dem Radiostudio, in einer schlauchartigen Kammer neben der Kantine, werkten zwei Dissidenten: Andreas Thaler und Sonja Obexer belieferten als freie Mitarbeiter alle möglichen Radiosendungen im Haus. Und sie schnitten und bauten ihre Beiträge selber! Ohne Termin im Tonstudio. Was enorm viel Zeit sparte und was sie mir netterweise rasch beigebracht haben.

Am 17. Mai 1985 ging mein erster Radiobeitrag auf Sendung: eine viereinhalb Minuten lange Zusammenfassung einer Podiumsdiskussion über „Jugend und Faschismus“ vierzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Aufnahme ist – glücklicherweise – nicht mehr auffindbar, aber die Honorarnote besitze ich noch: 787 Schilling (nach heutigem Wert ca. 140 Euro), für mich ein Vermögen. Noch wenige Monate davor hatte ich wöchentlich hundert Schilling Taschengeld und für vierzig Schilling pro Stunde einen Bürojob neben der Schule. Zwei Wochen nach meinem ersten Beitrag bat ich um einen freien Tag, ich hatte mündliche Matura.

Zum Schulschluss kam ich auf die wenig originelle Idee, einen Beitrag über die Zeugnisse von Tiroler Politikern zu gestalten und war stolz auf meine gründliche Recherche. Die Geschichte war fertig und vom Chef vom Dienst „abgenommen“, es war ein herrlicher Julitag und ich lag bereits in der Badehose im [Innsbrucker Freibad] Tivoli in der Sonne, als mir einschoss, dass ich völlig vergessen hatte, einen „Moderationsvorschlag“ abzuliefern. Aus der Telefonzelle beim Tivoli-Buffet rief ich im Studio an und bat die Sekretärin, ob ich ihr ausnahmsweise – wie die angestellten Redakteure fast jeden Tag – die wenigen Zeilen Text telefonisch ansagen dürfe? Die gut doppelt so alte Kollegin war von der Idee, ein 18-Jähriger würde ihr etwas aus dem Freibad diktieren, während in der Redaktion alle schwitzten, nicht sonderlich amüsiert und beorderte mich in eher harschem Ton zurück ins Büro.

Politik und Bambis

Aber die Arbeit war interessant, abwechslungsreich und für meine Verhältnisse extrem gut bezahlt und so wurde aus dem Nebenjob, der mir eigentlich nur das Studium finanzieren sollte, sehr schnell ein Beruf. Mir war bald klar, dass ich nicht ewig Lokalreporter bleiben wollte, aber als Einstieg in den Journalismus waren eine Lokalredaktion und ein Landesstudio ideal.

Man konnte – zumindest damals – sehr viel ausprobieren: Neben den tagesaktuellen Reportagen für die „Landesrundschau“ gestaltete ich bald längere Beiträge für die Familienredaktion, moderierte die Jugendsendung „Auf Draht“ und schließlich auch jeden Samstag von 6 bis 8 Uhr Früh die „Welle Tirol“. Im Zeitalter der „Formatradios“ ist das unvorstellbar, doch damals wählten alle „Welle“-Moderator·innen die Musikfarbe ihrer Sendungen selbständig aus. Bei Ingo Rotter am Dienstag jodelten die Kastelruther Spatzen, am Mittwoch spielte Ulli Schmalzl deutschsprachigen Pop und ich entschied mich am Samstag für Peter Kraus, Conny Froboess und Rocco Granata. „Lady Sunshine und Mr. Moon“ könnte ich noch ebenso mitsingen wie „Melancholie“ von den Bambis. Meine Kompetenz zum Thema deutsche Schlager der 1950er- und 60er-Jahre wird heute häufig unterschätzt.

Innsbruck – Wien – Washington – Wien

Im Jahr nachdem ich das Studio am Rennweg erstmals betreten hatte, wurde der berühmte Wiener Fernseh-Chefredakteur Rudolf Nagiller ziemlich überraschend Landesintendant in Tirol. Ein beeindruckender Profi, der mir im Herbst 1987 ein zweiwöchiges Praktikum in Wien organisierte – in der Redaktion des „Mittagsjournal“ bei Ö1. Von dort kam ich mit einem Job-Angebot zurück und übersiedelte Anfang 1988 nach Wien, um Außenpolitik-Redakteur im Hörfunk zu werden. Vier Jahre später war ich USA-Korrespondent, 1995 wechselte ich zum Fernsehen in die ZiB2-Redaktion und 2002 begann ich, die ZiB2 auch zu moderieren.

Nichts davon konnte ich mir auch nur annähernd vorstellen, als ich im Frühling 1985 aus dem Fenster der 5d zum ORF-Studio schaute und mir dachte: Vielleicht könnte ich mich da drüben mal vorstellen, das müsste doch ein super Studentenjob sein.


Aus: Kapferer, Benedikt: Das Mikrofon im Dorf. Die Geschichte des Radios in Tirol. Innsbruck (Tyrolia), 2024, S. 180-183

Das Beitragsfoto (© ORF, auch im Buch abgedruckt) zeigt das Team des „ORF- Sommerradios“ von Radio Tirol im Jahr 1987. Sitzend: Manfred Gabrielli und Andreas Thaler, stehend: Armin Wolf, Sonja Obexer und Roland Staudinger.