Im Februar 2009 hat meine Beziehung mit Twitter begonnen – knapp 16 Jahre und 126.725 Tweets später hört sie jetzt wieder auf.
Es war sehr lange schön mit dir Twitter, aber in den letzten Jahren, seit du dich nur mehr X nennst und täglich immer weiter radikalisierst, war es gar nicht mehr schön, sondern vor allem giftig, voller Lügen, aggressiv und deprimierend.
Ich hatte Twitter in den USA entdeckt, im Obama-Wahlkampf 2008, und mich kurz darauf registriert. In Österreich gab es damals ca. 4.000 Accounts, vor allem PR-Leute und IT-Nerds. Wegen meines Jobs im Fernsehen war ich hierzulande der erste halbwegs prominente Name auf der Plattform und hatte binnen weniger Wochen den größten Account im Land. Viele Jahre lang wurde ich Twitter-Neulingen automatisch als „Who to follow“ vorgeschlagen und mein Account wuchs gemeinsam mit der österreichischen Twitter-Gemeinde auf zuletzt knapp 640.000 Abonnent·innen.
Vom ersten Tag an fand ich Twitter fabelhaft. Nirgendwo sonst konnte man sich so einfach mit Spitzen-Expert·innen und Thinktanks der unterschiedlichsten Bereiche vernetzen, unkomplizert den besten Medien weltweit folgen, Fachartikel lesen, für die man früher stundenlang in Uni-Bibliotheken saß und immer wieder staunen und lachen. Twitter war eine geniale — und unfassbar schnelle — Nachrichtenagentur und gleichzeitig ein unerschöpfliches Archiv.
DISKURS, DEBATTE, DISPUT
Genauso interessant fand ich die Plattform aber auch als Diskurs-Medium. Im Fernsehen senden wir, Rückmeldungen gab es früher maximal via E-Mail oder — immer seltener —im Kundendienst-Telefonprotokoll. Auf Twitter kam das Feedback noch während der Sendung, regelmäßig wurde ich auf Fehler oder Versprecher aufmerksam gemacht und konnte sie noch on air korrigieren. Nach 22h30 antwortete ich auf Kommentare zur Sendung und immer wieder fragte ich Follower um Rat. Ein gesamtes ZiB2-Interview mit einem neuen Fussball-Teamchef bestritt ich Sport-Ignorant ausschließlich mit Frage-Ideen meiner Twitter-Community.
Außerdem ließen sich dort deutlich jüngere Menschen erreichen als im klassischen Fernsehen und ein Publikum, für das eine „Zeit im Bild“ um 19h30 oder 22h00 nicht mehr quasi rituell zum Tagesablauf zählte.
Wenn ich online was Interessantes oder Witziges las, habe ich es weiterverlinkt, auch meine Blog-Einträge von hier, ich habe unendlich viel gelernt und in Summe schätzungsweise 15.000 bis 20.000 Stunden Lebenszeit auf Twitter verbracht, den Großteil davon in Dialogen, Debatten, manchmal auch völlig unnötigen Streits. Und immer wieder habe ich argumentiert, warum seriöse Medien und Journalist·innen Twitter — und andere soziale Medien — „mit Journalismus fluten“ sollten (z.B. hier, hier oder hier).
IRRE UND IHRE ANSTALT
Aber auf Twitter ist das für mich vorbei. Vor zwei Jahren hat Elon Musk das Unternehmen übernommen — „Let that sink in!“ —und sich vom ersten Tag an nach Kräften bemüht, sein 44 Milliarden-Dollar-Spielzeug als konstruktive Diskurs-Plattform zu zerstören. Die Moderations-Teams, die zumindest den ärgsten Irrsinn blockierten oder wieder löschten, wurden gefeuert, dafür die Werbe-Postings vervielfacht. Blaue Häkchen bekamen nicht mehr verifzierte Accounts, sondern alle anonymen Trolle, die bereit war, dafür zu zahlen. Schnell wurde offensichtlich, dass diese zahlenden Accounts viel öfter angezeigt wurden als alle anderen, während Tweets mit Links zu sinnvollen Inhalten ständig noch weniger Views bekommen. Weitaus am häufigsten sind jedoch die Postings von Eigentümer Musk zu sehen, bei denen automatisch im Algorithmus steht: “author_is_elon“.
Twitter wurde X —und von Irren geflutet: Propaganda-Bots, Neonazis, Rassisten, Sexisten, Incels, Verschwörungsparanoiker, Fake News und Bullies ohne Ende. Und alles ohne Konsequenzen. Einen Account unter einem scheinbaren Klarnamen, auf dem praktisch jeder Tweet nach mehreren Paragrafen strafbar ist, bei X zu melden, ist eine völlig sinnlose Übung:
Und natürlich gibt X — gegen alle gesetzlichen Vorschriften — die User-Daten dieser Trolle nicht heraus, womit sie auch juristisch nicht belangbar sind. (Man könnte natürlich auch X direkt klagen, Unternehmenssitz Irland — viel Erfolg!)
DER ÜBER-TROLL ALS CHEF
Die „absolute Redefreiheit“, die Elon Musk mit fast religiösem Eifer predigt, und ein modifizierter Algorithmus haben es den Irren erlaubt, die Anstalt zu übernehmen. Ohne Blockier-Funktion wäre X schon seit langem unerträglich, ich hatte zuletzt 671 Accounts stummgeschaltet und 9.140 blockiert. Wer viele Follower hat, kann kein politisches Tweet mehr schreiben ohne Dutzende oder hunderte untergriffigste Kommentare großteils vermummter Aggro-Trolle. Für etwas exponiertere Frauen ist X ohnehin unzumutbar geworden. Und der Über-Troll ist leider der Chef, dem der Laden gehört.
Elon Musk mag ein genialer Unternehmer sein und unermesslich reich — aber auf X verbreitet er ohne jede Hemmung Verschwörungs-Fantasien, Desinformation und Fakes. Aus der der politisch relevantesten Social-Media-Plattform der Welt hat er eine Propaganda-Bühne für sein Polit-Abenteuer als Donald Trumps best buddy und eine gigantische Hate-Speech-Schleuder gebaut.
AUSGEZWITSCHERT
Jetzt mag ich nicht mehr. Ich lege meinen Twitter-Account heute nach 5.757 Tagen still. Ich lösche ihn noch nicht ganz, weil ich die Plattform leider als tagesaktueller Journalist für meine Arbeit noch brauche. Viele internationale Medien, Institutionen und Expert:innen finde ich woanders — noch? — nicht und bei Katastrophen oder Krisen, die oft abends in der ZiB2 vorkommen, ist X noch unfassbar schnell. Aber ich werde dort kein Wort mehr posten, keine Kommentare mehr lesen und nicht mehr reagieren, vor mir gibt es keine neuen Inhalte mehr. (Ob ich meine alten Tweets alle lösche, überlege ich noch.)
Über die vielen Jahre habe ich Twitter etwa 25 dicht bedruckte Bücher an Content geschenkt. Eigentlich irre — und trotzdem war das lange ein vernünftiges Geschäft: Ich bekam dafür sehr, sehr viel nützliche Information, viel Spass und ein großes Publikum für meine Tweets. Aber dieser Deal funktioniert nicht mehr. Elon Musk hat Twitter kaputt gemacht.
BLAUER HIMMEL
Als neue Plattform werde ich ab sofort Bluesky ausprobieren und würde mich freuen, wenn Sie mir dort folgen. Ironischerweise wurde diese Plattform von Twitter-Gründer Jack Dorsey erfunden, als eine Art dezentrales Twitter — ohne Werbung, ohne Algorithmus, der Hate Speech belohnt, und ohne Elon Musk.
In den letzten Wochen sind weltweit Millionen Accounts auf Bluesky gewechselt, darunter auch ziemlich viele österreichische „Twitterati“. Etliche große Accounts bekannter Journalist·innen übersiedeln heute unter dem Hashtag #eXit gemeinsam mit mir — und derzeit scheint es sich dort ein bisschen so anzufühlen wie auf Twitter um 2010. Also sehr sympathisch.
Ich muss mich auf Bluesky auch erst zurechtfinden und einleben (der Standard hat heute eine praktische Einführung). Aber es sieht ganz so aus, als könnte die Plattform —zumindest für Inhalte und Diskussionen aus und über Österreich —schon bald so nützlich werden, wie es Twitter mal war. Wäre schön.
Nachtrag, 17.11., 19h45: Mittlerweile haben viele große Medien über den #eXit berichtet: STANDARD, PRESSE, KURIER, KLEINE, ORF.AT und auch FALTER-Chef Armin Thurnher in einer Online-Kolumne.