Vor sechs Wochen, am 17. November, bin ich gemeinsam mit etlichen anderen österreichischen Journalist·innen übersiedelt — von Twitter/X, wo ich über 15 Jahre lang quasi zuhause war, auf Bluesky. Seit gestern folgen mir auf Bluesky mehr als 50.000 Menschen, also eine ganze Menge (vielen Dank!). Auf X hatte ich zuletzt allerdings 640.000 Follower und den mit Abstand größten Account im Land. Hat sich der #eXit trotzdem gelohnt?
Ja, das hat er. Und ich habe ihn keinen Tag bereut, auch wenn ich auf Bluesky noch nicht ganz im Himmel bin.
Es war jedenfalls richtig, X als aktiver User zu verlassen. Das zeigt sich mit jedem neuen Tweet von Elon Musk. Ich schreibe nicht für Russia Today, warum sollte ich der Propaganda-Plattform eines offen rechtsradikalen Politikers — und das ist Musk mittlerweile — meinen Content schenken? Weshalb ich glaube, dass Musk mein langjähriges Lieblingsmedium Twitter kaputt gemacht hat, habe ich am 17. November ausführlich begründet.
Ich habe damals auch erklärt, warum ich meinen X-Account trotzdem bisher nicht lösche. Mal abgesehen davon, dass ich verhindern will, dass wer anderer unter meinem Namen twittert, brauche ich die Plattform — leider — nach wie vor beruflich. Mir wäre lieber, es wäre nicht so, aber in Breaking News-Nachrichtenlagen wie dem Umsturz in Syrien oder dem Flugzeugabsturz in Kasachstan ist X als superschnelle Info-Quelle Bluesky noch überlegen. Das ist für die Arbeit in einer News-Redaktion, in der ein paar Minuten Info-Vorsprung oft sehr hilfreich sind, nicht unwesentlich. Ich finde dort auch relevante Expert·innen, die (noch) nicht auf Bluesky erreichbar sind. D.h., ich nütze X noch passiv, habe meinen Account aber stillgelegt.
Was ich gar nicht vermisse, sind die Diskussionen auf X, weil sie zuletzt — jedenfalls für sehr große Accounts — unerträglich waren. Unter jedem politischen Posting von mir standen Dutzende bis hunderte „Kommentare“ anonymer Aggro-Trolle, von denen das dutzendfache „Heul leise!“ noch die gehaltvollsten waren. Es hat schlicht keinen Spass mehr gemacht und keinen Sinn.
WAS ICH VERMISSE
Aber ich vermisse etliche Accounts, denen ich auf X gefolgt bin und deren Standpunkte mich interessieren, auch wenn ich sie oft nicht teile. Die dümmste Kritik am #eXit war ja, da wären Leute von Twitter geflüchtet, die „keinen Widerspruch aushalten“ würden.
Sorry, aber Widerspruch und der Umgang damit ist quasi mein Beruf. Ich liebe Debatten auch privat — und zwar mit Menschen, die nicht meiner Meinung sind. Meine Meinung kenne ich schon, aber ich werde gerne gescheiter. Die Debatten sollten jedoch mit gewissen Alltags-Umgangsformen geführt werden — v.a. aber mit Argumenten statt mit Beleidigungen.
Auf Bluesky ist mir noch zu wenig Debatte. Das hat wohl auch damit zu tun, dass etliche (v.a. konservativere) Accounts lieber auf X geblieben sind, was mir ehrlich ein Rätsel ist. Noch mehr Rätsel ist mir aber, weshalb viele wichtiger Politiker·innen nach wie vor auf X (und nur dort) posten: Auf einer Plattform, die fast alle relevanten (EU-)Gesetze ignoriert, betrieben von einem Mann, der traditionelle Parteien praktisch täglich verhöhnt und der ohne Ende Fake News und Verschwörungsfantasien verbreitet (und von seinem Algorithmus auch noch millionenfach multiplizieren lässt).
WO BLEIBT DIE POLITIK?
Unter nahezu jedem Politiker-Posting dort bestehen die Reaktionen zu mindestens 90 Prozent aus Hohn, Hass und Hetze. Noch-Ministerin Edtstadler hat deshalb dieser Tage ihren X-Account gelöscht: „Mit dieser Entscheidung möchte ich ein klares Zeichen setzen – insbesondere für alle Personen des öffentlichen Lebens“. Völlig anders als Bundeskanzler Nehammer: Er preist Elon Musk für seinen „wertvollen Beitrag zur Rede- und Meinungsfreiheit“. Natürlich auf X. Die Kommentare unter dem Tweet widerlegen den Befund ziemlich eindrucksvoll.
Ich hatte jedenfalls gehofft, dass nach vielen bekannten Journalist·innen aus Österreich auch viele politische Akteur·innen wechseln würden — auf eine neue Plattform, deren Algorithmus bezahlte Accounts, Hate Speech und Fake News nicht hochreiht und Tweets verbirgt, die zu seriösen Quellen verlinken. Denn wo die politischen Akteur·innen sind, findet logischerweise auch mehr (kontroverse) politische Debatte statt. Die geht mir bisher auf Bluesky noch ab.
VIEL ENGAGEMENT, WENIG DEBATTE
Meine größte positive Überraschung ist dafür das Niveau des Engagements. Ich bekomme auf praktisch jedes Bluesky-Posting mindestens so viele — eher mehr — sinnvolle Reaktionen als zuletzt auf X, obwohl meine Reichweite dort nominell 13 Mal größer war.
Neuerdings gibts auch „Mentions“ und „Lesezeichen“ (ich nütze die App „Skeets“), was Bluesky deutlich praktischer macht als zuvor. Was mir noch ein bisschen fehlt, sind Gruppen-DMs — vor allem aber noch mehr aktive und möglichst diverse Teilnehmer·innen. Ein Netzwerk lebt von seinen Mitgliedern. Momentan fühlt sich Bluesky für mich noch an wie Twitter 2009/2010. Das war schon sehr nett — aber Twitter im Jahr 2012 oder 2014 war noch deutlich interessanter. Ich bin hoffnungsfroh.
Happy new year!
Beitragsbild: unsplash.com/Vincenzo Di Giorgi