Eine Woche vor der Nationalratswahl im September habe ich hier im Blog sehr ausführlich — und wie ich überzeugt war, sehr logisch — erklärt, dass nach der Wahl der neue Bundeskanzler so heißen wird wie der alte, Karl Nehammer also.
Das war ganz offensichtlich falsch.
Mit Stand heute Abend wird der nächste Bundeskanzler Herbert Kickl heißen, als erster freiheitlicher Regierungschef der Zweiten Republik und als Chef einer blau-schwarzen Koalition.
Das habe ich nicht nur für sehr unwahrscheinlich gehalten, sondern de facto für ausgeschlossen. War ich schlecht informiert? Hatte ich etwas Wesentliches übersehen? Habe ich unlogisch argumentiert?
Ich glaube nicht. Ich bin nur davon ausgegangen, dass die FPÖ bei der Wahl keine absolute Mehrheit erringen wird (das stimmte, es waren 28,85 Prozent). Und ich bin davon ausgegangen, dass die einzigen beiden Parteien, die der FPÖ theoretisch eine Regierungsmehrheit beschaffen könnten — also ÖVP und SPÖ —, ihr zentrales Wahlversprechen halten werden, nämlich Herbert Kickl nicht zum Kanzler zu machen.
Das war im Fall der ÖVP offensichtlich naiv.
Nun bin ich seit fast 40 Jahren Journalist, seit mehr als 30 Jahren berichte ich über Innenpolitik und ich hätte mich da nicht für naiv gehalten.
In einem langen Wahlkampf (und auch in den Monaten seither) habe ich zahllose Aussagen von führenden Politiker·innen der Volkspartei gesehen, gehört und gelesen, wonach eine ÖVP-Regierung mit Herbert Kickl absolut, völlig und kategorisch undenkbar sei. (Der STANDARD hat eine lange — und trotzdem bei weitem nicht vollständige — Liste.) Im Wahlkampf hatte die ÖVP eine 17seitige Broschüre auf ihre Website gestellt, als Argumentationshilfe für ihre Funktionär·innen: „Kickl kann‘s nicht“. Heute war sie noch online.
Für mich war klar: Aus dieser Festlegung kommt Karl Nehammer nicht mehr heraus. Das war letztlich auch so: Karl Nehammer macht keine Koalition mit Kickl, sondern ist zurückgetreten, jedenfalls als Parteichef und Kanzler (ob er sein Mandat als Abgeordneter in einer ÖVP-Koalition mit Kickl behalten wird, ist bisher nicht bekannt).
Und selbstverständlich bin ich davon ausgegangen, dass diese Linie für die gesamte ÖVP-Spitze gilt, die sich so eindeutig festgelegt hatte. Ganz besonders für Nehammers rechte Hand und Nummer 2 in der Partei: Generalsekretär Christian Stocker. (Die ZiB2 hat einschlägige Stocker-Aussagen zusammengestellt.)
Doch gestern war plötzlich alles anders. Nach einer — nichtmal sehr langen — ÖVP-Vorstandssitzung waren die zahllosen Warnungen vor dem „Sicherheitsrisiko“ Kickl, vor dem „Rechtsextremen“, mit dem „kein Staat zu machen“ sei und den im Parlament „niemand will“ und „in dieser Republik niemand braucht“, bedeutungslos — quasi Wahlkampf-Folklore, wo man ja schnell mal etwas schärfer wird. Der neubestellte ÖVP-Chef Stocker wünschte sich in einer Pressekonferenz vom Bundespräsidenten den Regierungsauftrag für Herbert Kickl und von der FPÖ eine Einladung zu Verhandlungen.
Vor wenigen Tagen noch hatte der ehemalige EU-Kommissar Franz Fischler erklärt, bei einer Koalition mit Herbert Kickl würde es „die ÖVP zerreißen“. Offensichtlich ein Irrtum: Die Bestellung von Christian Stocker zum geschäftsführenden Parteiobmann war einstimmig, bei seiner öffentlichen Bitte um eine FPÖ-Einladung sekundierten ihm die Vorsitzenden der ÖVP-Bünde und der aktuelle Chef der Landeshauptleutekonferenz. Widerspruch? Bisher keiner.
Den Abbruch der Regierungsverhandlungen mit der SPÖ erklärt die Volkspartei nun damit, dass sie auch nach der Wahl halten würde, was sie vor der Wahl versprochen hatte, nämlich „keine neuen Steuern“. Das war tatsächlich ein zentrales Wahlversprechen der ÖVP. Doch mindestens ebenso zentral war das Versprechen: „Keine Koalition mit Kickl“. Warum hier nach der Wahl nicht mehr gilt, was vorher versprochen wurde, hat bisher niemand nachvollziehbar erklärt.
Beim — erwartbaren — Ergebnis der Nationalratswahl sprach jede politische Logik für eine Dreier-Koalition aus ÖVP, SPÖ und Neos: Die Volkspartei hätte — trotz Wahldebakel und Platz 2 — den Kanzler behalten können, die SPÖ wollte wieder regieren und die Neos hätten endlich mitgestalten können. Dass dafür schmerzhafte inhaltliche Kompromisse nötig gewesen wären, war klar. Aber alle drei Parteien wären mit einer gemeinsamen Regierung besser ausgestiegen als jetzt: Neos und SPÖ setzen nun gar nichts um, sondern müssen wieder in Opposition. Die ÖVP kann zwar weiter regieren, aber nicht mehr als Kanzlerpartei, sondern — nach Koalitionsgesprächen, in denen sie mangels Alternative de facto keine Verhandlungsmacht mehr hat — als Juniorpartner der FPÖ.
Ganz offensichtlich habe ich Logik als politische Kategorie überschätzt. Der neue Bundeskanzler wird nicht so heißen wie der alte.
Diese Prognose stimmt nun wirklich.
PS: Was ist da passiert in den letzten Tagen, wie sicher kommt eine blau-schwarze Koalition unter Herbert Kickl, was bedeutet das und was würde passieren, sollten auch diese Verhandlungen scheitern? — All das habe ich heute ausführlich mit Peter Filzmaier besprochen, für eine aktuelle Sonderausgabe unseres Podcasts „Der Professor und der Wolf“. Zu hören überall, wo es Podcasts gibt, und hier zu sehen:
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