Bundespräsident Van der Bellen in der Hofburg vor JournalistInnen

Die Sache mit dem “Auftrag”

ÖVP und SPÖ sind nun offenbar dabei, sich doch noch auf eine gemeinsame Koalition zu einigen. Es wäre erst die zweite Regierung seit 1945, die ohne einen offiziellen Auftrag des Bundespräsidenten zur Regierungsbildung entsteht.

Dieser Auftrag ist ja eine interessante Sache.

In der Bundesverfassung existiert er nämlich nicht. Dort steht über die Bildung der Regierung nur ein einziger Satz: „Der Bundeskanzler und auf seinen Vorschlag die übrigen Mitglieder der Bundesregierung werden vom Bundespräsidenten ernannt.“

Dass der Präsident den späteren Bundeskanzler oder die Kanzlerin “mit der Regierungsbildung beauftragt“  ist nirgendwo vorgesehen, sondern lediglich eine politische Tradition, eine „Usance“. In den letzten Wochen sind gleich zwei Politiker an dieser Tradition gescheitert – Karl Nehammer und Herbert Kickl. Aber das ist wirklich selten. Davor ist das in achtzig Jahren Zweiter Republik und nach 24 Nationalratswahlen auch nur zwei Mal passiert.

Das erste Mal ist schon sehr lange her – und es ist ein besonders interessanter Fall, weil er zeigt, wie einflussreich der Bundespräsident bei einer Regierungsbildung sein kann. Oder zumindest sein konnte.

Der Mann, der keine Regierung zustande brachte, war ÖVP-Bundeskanzler Leopold Figl nach der Nationalratswahl 1953. Erstmals hatte nicht die ÖVP, sondern die SPÖ die meisten Wählerstimmen erzielt. Mit 42,11 Prozent lagen die Sozialisten vor der Volkspartei mit 41,26. Die SPÖ hatte sechs Mandate dazu gewonnen, die ÖVP drei verloren, doch aufgrund der Wahlarithmetik hatte die ÖVP im Nationalrat letztlich doch noch um ein Mandat mehr.

DER MÄCHTIGE PRÄSIDENT

Nun war der Bundespräsident am Wort. Der frühere Wiener Bürgermeister Theodor Körner war noch keine zwei Jahre im Amt und das erste vom Volk gewählte Staatsoberhaupt in der Geschichte Österreichs. (Obwohl die Volkswahl des Bundespräsidenten seit 1929 in der Verfassung steht, wurde sie erst 1951 erstmals durchgeführt.) Und der langjährige SPÖ-Politiker Körner beauftragte ÖVP-Kanzler Figl mit der Bildung einer neuen Regierung – also nicht die stimmenstärkste Partei bei der Wahl, sondern die mandatsstärkste Fraktion im Nationalrat. Gröbere Proteste dagegen gab es nicht.

Vor allem in der Wirtschafts- und Budgetpolitik war das Verhältnis zwischen ÖVP und SPÖ zuletzt immer schlechter geworden, deshalb wollte die Volkspartei eine neue Koalitionsvariante probieren und den jungen VdU, den Verband der Unabhängigen, in die Regierung holen. Die deutschnational-liberale Partei, aus der später die FPÖ entstand, verstand sich als politische Vertretung ehemaliger NSDAP-Mitglieder, Heimatvertriebener und heimgekehrter Kriegsgefangener. Bei der Wahl 1953 wurde der VdU mit knapp elf Prozent Dritter, hatte aber – wie die ÖVP – Stimmen und Mandate verloren.

Der Plan der ÖVP-Spitze war nun ein gemeinsames Wirtschaftsprogramm mit dem VdU, das die SPÖ dann in einer Dreier-Koalition akzeptieren könnte — oder auch nicht. Die SPÖ-Führung sagte Nein. Mit dem VdU könnte man sich „nicht an einen Tisch setzen …, weil es sich hier um Reste und Nachfolger der Nazi handelt“, erklärte die parteieigene „Arbeiter-Zeitung“. (Die Gründung des VdU hatte die SPÖ allerdings noch gefördert, um die konservativen Wählerschichten zu spalten.)

Daraufhin marschiert ÖVP-Kanzler Figl in die Hofburg – mit einem fertigen Programm für eine Zweier-Koalition aus ÖVP und VdU. Doch Theodor Körner lehnt ihre Angelobung ab: Der VdU sei nicht regierungfähig. In seinem Jahrhundertwerk Österreich II zitiert Hugo Portisch die Begründung des Bundespräsidenten: „Ich habe erkannt, dass bloße Erklärungen und Versprechungen eines Einzelnen wie einer Partei nicht ausreichen, um sie aus einer negativ kritisierenden über Nacht zu einer positiv staatsbejahenden zu machen. Hierfür müssen vielmehr eindeutige Beweise erst erbracht werden.“

Leopold Figl, seit der ersten Nationalratswahl von 1945 Kanzler, legt den Auftrag zur Regierungsbildung zurück und auch sein Amt als Regierungschef. Auf Vorschlag der ÖVP wird ihr Klub- und Parteichef Julius Raab als neuer Kanzler angelobt und mit der Bildung einer Regierung beauftragt. Raab hatte die Annäherung an den VdU viel stärker betrieben als Figl, aber der Bundespräsident erklärt ihm, dass er keine Regierung mit VdU-Beteiligung einsetzen wird.

Interessanterweise gibt es darüber keine große politische Debatte – und schon gar keine Staatskrise. Die Autorität des ersten vom Volk gewählten Staatsoberhaupts ist so groß – und seine verfassungsgemäße Kompetenz bei der Regierungsbildung so unbestritten –, dass er letztlich eine neue große Koalition erzwingen kann, gegen den Willen der ÖVP-Führung. Trotz der Komplikationen geht das alles übrigens erstaunlich schnell: Von der Wahl am 22. Februar 1953 bis zur Angelobung der neuen Regierung Raab-Schärf am 2. April vergehen nur 39 Tage.

DER OHNMÄCHTIGE PRÄSIDENT

Fast fünfzig Jahre später sieht es mit der Autorität des Bundespräsidenten völlig anders aus. Bei der Nationalratswahl am 3. Oktober 1999 wird die SPÖ trotz Verlusten wieder zur stärksten Partei, mit mehr als 33 Prozent klar vor FPÖ und ÖVP mit jeweils knapp 27 Prozent. Präsident Thomas Klestil beauftragt SPÖ-Kanzler Viktor Klima mit der Regierungsbildung, allerdings erst 67 Tage nach der Wahl.

ÖVP-Chef Schüssel hatte angekündigt, in Opposition zu gehen, sollte seine Partei nicht zumindest Platz 2 erreichen. Dafür fehlen der ÖVP aber letztlich 415 (!) Stimmen. Eine Zweier-Koalition scheint umöglich: Die Volkspartei will gar nicht regieren, eine Koalition mit den Freiheitlichen schließen die Sozialdemokraten aus. So „erfindet“ Präsident Klestil die ersten „Sondierungsgespräche“ nach einer Wahl. Erst als die ÖVP nach zwei Monaten ihre Oppositionsansage aufgibt, bekommt Wahlsieger Klima am 9. Dezember den Auftrag, nun eine Regierung zu bilden.

Doch die Verhandlungen mit der ÖVP scheitern nach sechs Wochen auf den allerletzten Metern: Die SPÖ-Gewerkschafter lehnen die ausverhandelte Pensionsreform ab, die ÖVP fordert plötzlich das Finanzministerium (oder zumindest eine parteiunabhängige Besetzung).

Klima legt den Regierungsauftrag zurück, bekommt vom Bundespräsidenten aber einen neuen, wie Gerfried Sperl in seinem Buch Der Machtwechsel beschreibt. Am 21. Jänner 2000 wird der SPÖ-Vorsitzende damit beauftragt, eine Minderheitsregierung zu bilden, die erste seit Kreisky 1970. Aber während Klima Gespräche darüber führt, einigen sich ÖVP-Chef Wolfgang Schüssel und FPÖ-Chef Jörg Haider – ohne Regierungsauftrag – auf eine gemeinsame Koalition. Obwohl die Freiheitlichen bei der Wahl knapp stärker waren und deutlich zugelegt hatten, überlassen sie der drittplatzierten ÖVP das Kanzleramt, Haider bleibt als Landeshauptmann in Kärnten.

Bundespräsident Klestil will diese Koalition ausdrücklich nicht (und versucht sogar Franz Fischler, den EU-Kommissar der ÖVP, zur Bildung einer Regierung zu überreden, was dieser jedoch ablehnt). Doch anders als Körner ein halbes Jahrhundert zuvor kann Klestil sich nicht durchsetzen. Er lehnt zwei freiheitliche Ministerkandidaten ab (Kabas und Prinzhorn) und verlangt die Unterzeichnung einer „Präambel“ zum Regierungsprogramm, die eine proeuropäische Politik und die Menschenrechte garantiert.

Am 4. Februar 2000 gelobt Klestil die schwarz-blaue Regierung – die buchstäblich gegen seinen Auftrag entstanden ist – an und schaut dabei finster. Mehr war ihm nicht geblieben. Viktor Klima, gleich doppelt an der Regierungsbildung gescheitert, tritt wenig später als SPÖ-Vorsitzender ab und verlässt die Politik.

DER GESTRESSTE PRÄSIDENT

Die nächsten zwanzig Jahre funktioniert das mit den neuen Regierungen dann wieder ganz traditionell. Nach den Wahlen 2002, 2006, 2008, 2013, 2017 und 2019 bekommt der jeweilige Vorsitzende der stimmenstärksten Partei (es sind immer Männer) vom Bundespräsidenten (auch lauter Männer) den Regierungsauftrag (der in der Verfassung nicht existiert) und bildet einige Wochen später eine Koalition (Schwarz-Blau, drei Mal Rot-Schwarz, Türkis-Blau, Türkis-Grün), die der Präsident dann angelobt.

Einmal allerdings – nach der Ibiza-Affäre im Jahr 2019 – wird erstmals in der Zweiten Republik eine Bundesregierung abgewählt, durch ein Misstrauensvotum im Nationalrat. Bis zur Formierung einer neuen Koalition nach Neuwahlen soll eine Übergangsregierung aus Spitzenbeamt·innen die Geschäfte führen. Bundespräsident Van der Bellen beauftragt die parteilose Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs mit ihrer Zusammenstellung. Brigitte Bierlein wird die erste Bundeskanzlerin in der Geschichte Österreichs und bleibt sechs Monate im Amt.

Fünf Jahre später eine weitere Premiere: Zum ersten Mal vergibt der Bundespräsident den Auftrag zur Regierungsbildung nicht an die stärkste Partei im Nationalrat. Das ist nach der Nationalratswahl 2024 die FPÖ, doch alle anderen Parteien schließen vor und nach der Wahl kategorisch aus, mit FPÖ-Chef Kickl eine Koalition zu bilden.

Es ist “der vollkommen unübliche Fall eingetreten, dass es eine stimmenstärkste Partei gibt, mit der allem Anschein nach keine der anderen Parteien zusammenarbeiten will”, erklärt der Bundespräsident nach wochenlangen “Sondierungen” und beauftragt erstmals in der Zweiten Republik den Vorsitzenden der zweitstärksten Partei im Nationalrat.

Doch ÖVP-Chef Karl Nehammer scheitert mit seinen “Dreiko”-Verhandlungen und auch an einer Zweier-Koalition mit der SPÖ. Er legt den Regierungsauftrag zurück, tritt als Kanzler und Parteichef ab und verlässt die Politik. Die ÖVP ist nun – gegen ihr zentrales Wahlversprchen –  zu Verhandlungen mit Kickl bereit. “Eine neue Situation”, sagt der Bundespräsident und beauftragt nun doch den FPÖ-Vorsitzenden, eine Regierung zu bilden. Doch auch Kickl scheitert und gibt den Auftrag zurück, bleibt aber Parteichef.

Es ist eine historisch einmalige Situation. Der Bundespräsident beklagt die mangelnde Kompromissfähigkeit der Parteien, sieht seine eigene Rolle aber völlig anders als einst Theodor Körner: “Meine Aufgabe ist es darauf zu achten, dass unser Land eine handlungsfähige Regierung bekommt. Wie diese Regierung zusammengesetzt ist, hat für mich grundsätzlich keine Rolle zu spielen, solange sie auf dem Boden der Verfassung zustande kommt. Sich auf Koalitionen zu einigen, ist die Aufgabe der gewählten Politikerinnen und Politiker.”

Seither reden die Parteiführungen miteinander – ohne neuen Auftrag zur Regierungsbildung. Der Präsident hat nach zwei gescheiterten Versuchen keinen mehr vergeben.

Mit Stand heute sieht es so aus, als würden sich ÖVP und SPÖ diesmal einigen. Es wäre die erste Regierung außer der schwarz-blauen Koalition von 2000, die ohne den Auftrag des Präsidenten entsteht. Bei ihrer Angelobung wird Alexander van der Bellen vermutlich trotzdem nicht sehr finster schauen.


Nachtrag: Am 3. März 2025 hat Alexander Van der Bellen die erste Dreier-Koalition in Österreich seit 1947 angelobt, mit ÖVP-Kanzler Christian Stocker, SPÖ-Vizekanzler Andreas Babler und Neos-Außenministerin Beate Meinl-Reisinger an der Spitze. Einen offiziellen Auftrag zur Regierungsbildung hat  es nicht nicht mehr gegeben.

Bei der Angelobung sagt der Bundespräsident: „Was lange währt, wird endlich gut. Das ist meine Hoffnung angesichts der vielen Tage, die diese Regierungsbildung gebraucht hat.“
155 Tage, um exakt zu sein.


Foto: Präsidentschaftskanzlei / Peter Lechner