Was lernen Politiker*innen in Medientrainings?

Heute Abend beginnen die diesjährigen ORF-Sommergespräche, die meistdiskutierte Interviewserie im heimischen Fernsehen. 1981 fanden sie zum ersten Mal statt – damals, um bei der REPORT-Vorläufersendung POLITIK AM FREITAG die nachrichtenschwächsten Sommerwochen zu überbrücken. Weil 1981 nur drei Parteien im Nationalrat vertreten waren, gab es auch nur drei Sommergespräche: PaF-Chef Peter Rabl sprach mit ÖVP-Chef Alois Mock und FPÖ-Obmann Norbert Steger, SPÖ-Kanzler Bruno Kreisky wurde von Fernsehintendant Franz Kreuzer interviewt.

Berühmt wurde das Steger-Gespräch. Weniger wegen des Inhalts – kein Mensch weiß mehr, was damals gesagt wurde. Sondern weil Interviewer Peter Rabl wegen der Riesenhitze mit dem FPÖ-Chef in den Swimmingpool sprang, um das Gespräch dort zu beenden (Video). Es blieb eine einmalige Einlage.

Steger-Rabl-Pool TOTALE

Das bisher meistgesehene Sommergespräch war 36 Jahre später jenes von Tarek Leitner mit dem damals neuen ÖVP-Chef Sebastian Kurz, wenige Wochen vor der Nationalratswahl 2017. 1.034.000 Zuseher*innen waren durchschnittlich dabei. (Hier eine vollständige Auflistung aller ORF-Sommergespräche bisher, inkl. zahlreicher Screenshots.)

Dieses Jahr gibt es fünf Sommergespräche, erstmals geführt von meinem Kollegen Tobias Pötzelsberger, der im Mai mit seiner fulminanten Moderation einer fast sieben Stunden langen „Ibiza“-Sondersendung schlagartig bekannt geworden ist. Tobias arbeitet erst seit einem Dreivierteljahr in der ZiB-Redaktion, ist aber – trotz seiner relativen Jugend – ein ORF-Routinier. Fast 15 Jahre lang war er Reporter und Moderator im Landesstudio Salzburg und hat dort auch zahllose ausführliche Radio-Interviews mit Politiker*innen geführt.

Der Moderator ist dieses Jahr also neu – altbekannt hingegen wird so manche Antwort-Strategie der fünf Parteichef*innen sein. Auch wenn eine aktuelle Studie über die Sommergespräche zeigt, dass im langjährigen Schnitt drei von vier Fragen der Interviewer*innen tatsächlich beantwortet werden, werden wir auch heute um 21h05 und an den nächsten vier Montag-Abenden beobachten können, wie Spitzenpolitiker*innen Fragen ignorieren, ausweichen oder sehr lange Antworten auf Fragen geben, die gar nicht gestellt wurden.

Das machen Politiker*innen natürlich nicht spontan. Sondern weil sie für Medienauftritte eigens geschult werden. Ich kenne das – häufig frustrierende – Ergebnis seit vielen Jahren aus der Perspektive des Interviewers. Aber wie sieht es aus der Warte derjenigen aus, die Politiker*innen schulen?

Das habe ich Lena Doppel-Prix gefragt, eine erfahrene Kommunikations- und Medientrainerin, die aus vielen ORF-Sendungen auch als Social-Media-Expertin bekannt ist. Lena hat immer wieder Politiker*innen (der SPÖ, der Grünen und der Liste Jetzt) geschult – und zum Start der diesjährigen Sommergespräche für meinen Blog dankenswerterweise diesen Gastbeitrag geschrieben:


Das ist eine wirklich interessante Frage… (die ich nicht gedenke, zu beantworten.)

VON LENA DOPPEL-PRIX

Jeder von uns hat diese Floskeln schon dutzendfach gehört: Das ist eine sehr interessante Frage, aber lassen Sie mich zuerst vorausschicken…; Was wirklich wichtig ist… oder Was wir schon immer gesagt haben, ist… Politiker verwenden sie tagtäglich um Fragen von Journalistinnen zu ignorieren und stattdessen auf eigene Kernbotschaften überzuleiten.

Aber nur weil etwas verwendet wird, muss es ja nicht gut sein. Ist es wirklich ratsam, Fragen von Journalistinnen in Live-Interviews nicht zu beantworten? Trainieren Medientrainer tatsächlich solche Techniken, unterrichten Rhetoriktrainerinnen das Ignorieren von Fragen zum Wohle der eigenen Botschaft? Oder ist es gar nur eine Ausrede für vorbereitungsfaule oder sogar journalistenfeindliche Politiker?

Die Antwort auf diese Frage ist komplexer als vielleicht auf den ersten Blick gedacht. Ich selbst habe in meiner Praxis als Rhetorik-Trainerin und aktuell als Social Media-Trainerin solche absichtlichen Unhöflichkeiten meistens als Ergebnis schlechter Vorbereitung gelesen: Wer gut vorbereitet ist, kann mit den Fragen des Interviewers arbeiten und nicht dagegen. Bei der schriftlichen Kommunikation in Social Media fällt es stärker auf, dass das Nicht-Beantworten einer Frage nicht gerade verständnis- und kommunikationsfördernd ist, aber gerade bei Live-Interviews wird es laufend – und von Vertretern aller Parteien – angewandt.

Ein möglicher Ursprung dieser Floskeln, mit denen Politikerinnen so gerne die Nichtbeantwortung von Journalistenfragen einleiten, liegt in der englischsprachigen Technik ABC(D)-Framework. Diese Technik – auch Bridging, also auf deutsch Überbrücken genannt – arbeitet mit den vier aufeinanderfolgenden Elementen

  • Acknowledging the question, auf deutsch: die Frage anerkennen, also: Der Journalistin zu verstehen geben, dass ich die Frage verstanden habe und dass ich sie – soweit mir möglich – beantworten werde.
  • Bridging with a phrase – eine Überleitungs-Phrase, die das gefürchtete ‚aber‘ vermeiden soll und signalisiert, dass die Antwort sich mit einem Punkt befassen wird, der dem Interviewten wichtiger ist als die direkte Beantwortung der Frage. Manchmal wird zur Überbrückung auch die Formel ‚Yes, and…‘ aus der Improv Comedy Technik verwendet.
  • Control or Contribute – die inhaltliche Ausführung der Antwort, in der man versucht eigene Kernaussagen unterzubringen
  • Dangle – ein optionaler Teil, bei dem einer Journalistin eine Karotte vor die Nase gehängt wird, und zwar in Form einer saftigen Aussage, die sie dazu verleiten soll, genau bei dieser nachzufragen.

(Quellen: Kristien Vermoesen, Raf Weverbergh, Finn & Brad Phillips, Throughline)

Zugegeben ein durchaus komplexes und anspruchsvolles Konzept. Deshalb scheinen sich im Laufe der Zeit zahllose Verkürzungen dieses ursprünglichen Argumentations-Frameworks herausgebildet zu haben.

FRAGEN NICHT ZU BEANTWORTEN IST EINE TECHNIK

Also knapp gesagt: Ja, Politikerinnen sehen die Technik des Fragen-nicht-beantwortens-und-stattdessen-was-ganz-anderes-sagens als eine valide Methode. Interessanter ist, dass es auch einige Medientrainer und Rhetorik-Trainerinnen so sehen.

Bei der Nachfrage unter Kollegen wurde mir die verkürzte Form der ABC(D)-Technik unter mehreren Namen beschrieben. Vom Beinahe-Original Bridge back to your key messages über Sprungbretttechnik, die Basis jedes Medientrainings bis zu Blocktechnik nach Albert Thiele.

Thiele empfiehlt in seinem Buch Argumentieren unter Stress, wie man unfaire Angriffe erfolgreich abwehrt, im Kapitel über Schwierige Situationen bei Auftritten in Funk und Fernsehen zuerst den klassischen rhetorischen Fünf-Satz (Kernaussage, maximal drei Punkte Argumentation, Zwecksatz/Appell) und dann später eine Technik, die er Blocken, Überbrücken, Kreuzen nennt.

Ziel dieser Technik ist es unwillkommene Fragen zu blocken und zu überbrücken, willkommene Fragen hingegen passend zu beantworten und zu kreuzen.

Dabei definiert Thiele Blocken als Die Frage nicht zu beachten oder ins Leere laufen zu lassen. Ein Verhalten das nicht mehr viel mit acknowledging the question aus der ABC(D)-Formel zu tun hat. Eine Erklärung für diese Empfehlung gibt er nicht. Ansonsten entspricht in seinem Modell das Überbrücken dem Bridging und das Kreuzen dem englischen Dangle, also dem Interviewer eine inhaltliche Karotte vor die Nase zu halten, in der Hoffnung, dass er diese in der nächsten Frage aufgreifen möge.

„THE PROBLEM IS NOT WITH THE TECHNIQUE. IT’S WITH THE PEOPLE WHO USE IT BADLY.”

Der New Yorker Public Speaking-Trainer Brad Phillips erklärt in einer Serie von Blogposts die ABC(D) Technik detailliert und mit vielen Beispielen. Das Ziel der Technik ist es, der Journalistin nicht die alleinige Führung des Interviews zu überlassen und die wichtigsten eigenen Botschaften zu platzieren. Bridging ist – laut Brad Phillips – aber eben keine Technik um Fragen auszuweichen, weil Ausweichen, vor allem bei Zuseherinnen von Live-Interviews, diese gegen den Interviewten einnehmen kann. Stattdessen folgt die Bridge auf eine gute aber knappe Antwort.

Brad Phillips meint, manchmal würden als Antwort sogar ein einziges Wort oder eine kurze Phrase reichen und bringt die Beispiele: Ja; Nein; Vielleicht; Möglicherweise; Das ist nach unserer Erkenntnis nicht so; Das ist nicht klar oder Manchmal, aber nicht immer.

Der Vorteil der verkürzten, aber laut Phillips schlechten Anwendung: Der Befragte muss sich inhaltlich nicht auf kritische Fragen vorbereiten. Der Nachteil: Wenn der Interviewer auf der Frage beharrt und sie einmal oder sogar mehrmals wiederholt, entsteht ein unangenehmer kreisender Eindruck. Der Interviewte wird dadurch gezwungen, länger und länger um das unangenehme Thema herumzureden, statt es knapp abzuhandeln und damit zu verlassen.

GAR NICHT ANTWORTEN IST UNHÖFLICH

Politisch interessierte Laien beantworten die Frage, ob ein Politiker Fragen eines Journalisten gar nicht beantworten soll, recht eindeutig mit Das ist mir unangenehm oder Das finde ich ignorant. Politisch Aktive zeichnen da ein anderes Bild: Die Journalistin wird von vielen als Feindin wahrgenommen: Es geht nicht um den Interviewer; die Interviewerin stellt oft blöde Fragen; das ist Schuld der Fragetechnik der Journalistin.

Die deutsche Journalistin und Kurzzeit-Politikerin Susanne Gaschke spricht in einem ZEIT-Artikel aus dem Jahr 2016 über ein ‚Zerwürfnis‘ zwischen Medien und Politik, aber auch zwischen Medien, Politik und Gesellschaft: „Dem Politiker bricht eine unbedachte Äußerung vielleicht das Genick; der Journalist ist auf der Jagd nach unbedachten Äußerungen.“ Dabei schildert die Ex-Politikerin wohl auch persönliche Erfahrungen.

Tatsächlich ist ein Interview natürlich ein Spiel mir drei Playern: Interviewer, Interviewte und Publikum. Das Publikum wird durch die Fragen des Journalisten vertreten und durch das Nicht-Antworten der Politikerin in gewisser Weise ignoriert: Es geht bei den Fragen des Journalisten ja nicht um ihn – oder gegen ihn – als Person, sondern um seine Stellvertreter-Rolle als Agent des Publikums.

Tatsächlich empfiehlt kein Mediencoach, es sich aktiv mit einer Interviewerin zu verscherzen. Trotzdem kommen viele Politiker, die diese Methode des Fragen-Verweigerns anwenden, ungeschoren davon: Der Journalist fragt nicht mehr nach oder das Publikum behält die letzte Politiker-Aussage besser in Erinnerung als die nicht beantwortete Interview-Frage.

Bleibt nur als Trost, dass sich die Wählerinnen letztlich wohl nicht nur nach den rhetorischen oder formal argumentativen Kompetenzen, Fähigkeiten und Tricks eines Kandidaten entscheiden. Sonst hätten wir heute vermutlich einen Präsidenten namens Norbert Hofer.


Lena Doppel-Prix ist Autorin und Digitalisierungs-Beraterin. Ihre ersten fünf Berufsjahre war sie als Journalistin, danach zehn Jahre als Rhetorik- und Kommunikationstrainerin im Politikbereich tätig. Sie hat dabei mit Vertreter*innen der SPÖ, der Grünen und der Liste Jetzt gearbeitet. Seit Mitte der 1990er schult, berät, schreibt und lehrt sie im Bereich der Digitalisierung von Kommunikation. Ehrenamtlich ist sie im Moment mit dem Aufbau eines Mediums für zivilgesellschaftliches, politisches Engagement beschäftigt.