Wer wird Österreich regieren? Neuer Versuch

Eine Woche vor der Nationalratswahl im September habe ich hier im Blog sehr ausführlich — und wie ich überzeugt war, sehr logisch — erklärt, dass nach der Wahl der neue Bundeskanzler so heißen wird wie der alte, Karl Nehammer also.

Das war ganz offensichtlich falsch.

Mit Stand heute Abend wird der nächste Bundeskanzler Herbert Kickl heißen, als erster freiheitlicher Regierungschef der Zweiten Republik und als Chef einer blau-schwarzen Koalition.

Das habe ich nicht nur für sehr unwahrscheinlich gehalten, sondern de facto für ausgeschlossen. War ich schlecht informiert? Hatte ich etwas Wesentliches übersehen? Habe ich unlogisch argumentiert?

Ich glaube nicht. Ich bin nur davon ausgegangen, dass die FPÖ bei der Wahl keine absolute Mehrheit erringen wird (das stimmte, es waren 28,85 Prozent). Und ich bin davon ausgegangen, dass die einzigen beiden Parteien, die der FPÖ theoretisch eine Regierungsmehrheit beschaffen könnten — also ÖVP und SPÖ —, ihr zentrales Wahlversprechen halten werden, nämlich Herbert Kickl nicht zum Kanzler zu machen.

Das war im Fall der ÖVP offensichtlich naiv.

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Hat sich der #eXit gelohnt?

Vor sechs Wochen, am 17. November, bin ich gemeinsam mit etlichen anderen österreichischen Journalist·innen übersiedelt — von Twitter/X, wo ich über 15 Jahre lang quasi zuhause war, auf Bluesky. Seit gestern folgen mir auf Bluesky mehr als 50.000 Menschen, also eine ganze Menge (vielen Dank!). Auf X hatte ich zuletzt allerdings 640.000 Follower und den mit Abstand größten Account im Land. Hat sich der #eXit trotzdem gelohnt?

Ja, das hat er. Und ich habe ihn keinen Tag bereut, auch wenn ich auf Bluesky noch nicht ganz im Himmel bin.

Es war jedenfalls richtig, X als aktiver User zu verlassen. Das zeigt sich mit jedem neuen Tweet von Elon Musk. Ich schreibe nicht für Russia Today, warum sollte ich der Propaganda-Plattform eines offen rechtsradikalen Politikers — und das ist Musk mittlerweile — meinen Content schenken? Weshalb ich glaube, dass Musk mein langjähriges Lieblingsmedium Twitter kaputt gemacht hat, habe ich am 17. November ausführlich begründet.

Ich habe damals auch erklärt, warum ich meinen X-Account trotzdem bisher nicht lösche. Mal abgesehen davon, dass ich verhindern will, dass wer anderer unter meinem Namen twittert, brauche ich die Plattform — leider — nach wie vor beruflich. Mir wäre lieber, es wäre nicht so, aber in Breaking News-Nachrichtenlagen wie dem Umsturz in Syrien oder dem Flugzeugabsturz in Kasachstan ist X als superschnelle Info-Quelle Bluesky noch überlegen. Das ist für die Arbeit in einer News-Redaktion, in der ein paar Minuten Info-Vorsprung oft sehr hilfreich sind, nicht unwesentlich. Ich finde dort auch relevante Expert·innen, die (noch) nicht auf Bluesky erreichbar sind. D.h., ich nütze X noch passiv, habe meinen Account aber stillgelegt.

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Rau-e Zeiten

Am 11. Dezember feiert der große österreichische Journalist Hans Rauscher seinen 80. Geburtstag. “Als Kommentator ist in diesem Land niemand wichtiger”, sagt – völlig zu Recht – sein ehemaliger Kollege und Chefredakteur Peter Rabl in einem Porträt, das ich für den STANDARD über “rau” schreiben durfte, mehr als vierzig Jahre nach unserem ersten persönlichen Treffen. Gestern ist es erschienen:

PDF meines STANDARD-Artikels über Hans RauscherDER STANDARD, 7.12.2024, S. 8

Der Text wurde im berüchtigt ruppigen STANDARD-Forum netterweise sehr freundlich aufgenommen, manche Poster·innen störten sich allerdings an der Schluss-Anekdote aus der Moskauer Hotelbar. Nein, natürlich sind nicht “alle hübschen Russinnen Prostituierte” — was für eine absurde Idee. Aber in der Bar des einzigen Moskauer Ausländerhotels der 1980er-Jahre, in das man ja nicht einfach von der Straße hineinspazieren konnte, waren junge Frauen tatsächlich häufig Prostituierte, die vom Geheimdienst auf internationale Delegationen, Wirtschaftsleute oder Journalisten angesetzt wurden, um diese später mit dem “Kompromat” zu erpressen. Hans Rauschers Rat war also schlicht professionell.

Zu Rauschers lesenswertem – teils auch autobiografischen – neuen Buch “Worüber sich zu schreiben lohnt”, hatte Ö1 kürzlich einen Beitrag, den man hier hören kann. Von dort stammt auch das Titelbild oben.

Warum das 20. Jahrhundert erst 2024 zu Ende ging

Eigentlich wieder kein Lesezeichen, sondern etwas zum Anhören — aber auch diesmal war die geopolitische Jahresbilanz, die der brillante Politologe Ivan Krastev Anfang Dezember im Wiener Presseclub Concordia im Gespräch mit Mirjana Tomic gezogen hat, ein intellektuelles Highlight, das ich sehr empfehlen kann.

Krastev mit Interviewerin im Presseclub Concordia


In einer guten Stunde können Sie hier hören (Podcast) oder hier sehen (YT-Video), warum Krastev nicht an das “kurze 20. Jahrhundert” von Eric Hobsbawm von 1914 bis 1989 glaubt, sondern an ein langes 20. Jahrhundert von 1914 bis 1924. Warum vielleicht nicht der Fall der Berliner Mauer das zentrale Ereignis des Jahres 1989 war, sondern das Niederwalzen der Studentenproteste am Pekinger Tiananmen-Platz oder der sowjetische Abzug aus Afghanistan. Und warum mit Donald Trump der amerikanische Exzeptionalismus endet — und das China ermuntern könnte, Taiwan anzugreifen.

Generation Social Media

Die heute 20jährigen sind die erste Generation, die so mit Social Media aufgewachsen ist wie die 50jährigen mit dem Fernsehen und die 35jährigen mit dem Internet. Aber was macht die Dauernutzung von sozialen Medien mit den Jugendlichen? Der amerikanische Sozialpsychologe Johnathan Haidt ist davon überzeugt, dass die Auswirkungen verheerend sind – von Angstzuständen über Depressionen bis zum Suizid. Haidt fordert deshalb: Keine Smartphones in Schulen und keine sozialen Medien für Jugendliche unter 16.

Australien ist jetzt das erste Land, das ein gesetzliches Social Media-Verbot für Unter-16-Jährige einführt. Aber was weiß man tatsächlich über die Konsequenzen von sozialen Medien für Jugendliche? Diesen Text darüber hat Online-Expertin Ingrid Brodnig in ihrem – immer lesenswerten – Newsletter empfohlen:

Screenshot mit Link zum New Yorker-ArtikelTHE NEW YORKER, 30.9.2024

Die besten Texte 2024

Seit einigen Jahren bin ich Mitglied der Jury für den Reporter·innen-Preis, einer der renommiertesten Auszeichnungen für Print- und Online-Journalismus im deutschsprachigen Raum. Ich darf dort jeden Herbst gemeinsam mit fabelhaften Kolleg·innen den jeweils besten Text in den Kategorien „Investigation“ und „Wissenschaft“ auswählen. Heute Abend werden die Auszeichnungen in Berlin verliehen.

Aber alle Texte in allen Kategorien, die eine Vorjury ausgewählt hat, gibts auf der Seite des Reporterforums auch online – und sie sind fast alle fantastisch. Es ist eine Art Best of des deutschsprachigen Text-Journalismus 2024 und man kann sich einfach stundenlang querdurch lesen. Viel Vergnügen!

Titelbild Website Reporterpreis 2024

Nachtrag vom 3.12.2024: Und hier gibts die “Sieger-Texte”, die mit den Reporter·innen-Preisen 2024 ausgezeichnet wurden.

#eXit: Twitter ist leider kaputt

Im Februar 2009 hat meine Beziehung mit Twitter begonnen – knapp 16 Jahre und 126.725 Tweets später hört sie jetzt wieder auf.

Es war sehr lange schön mit dir Twitter, aber in den letzten Jahren, seit du dich nur mehr X nennst und täglich immer weiter radikalisierst, war es gar nicht mehr schön, sondern vor allem giftig, voller Lügen, aggressiv und deprimierend.

Ich hatte Twitter in den USA entdeckt, im Obama-Wahlkampf 2008, und mich kurz darauf registriert. In Österreich gab es damals ca. 4.000 Accounts, vor allem PR-Leute und IT-Nerds. Wegen meines Jobs im Fernsehen war ich hierzulande der erste halbwegs prominente Name auf der Plattform und hatte binnen weniger Wochen den größten Account im Land. Viele Jahre lang wurde ich Twitter-Neulingen automatisch als „Who to follow“ vorgeschlagen und mein Account wuchs gemeinsam mit der österreichischen Twitter-Gemeinde auf zuletzt knapp 640.000 Abonnent·innen.

Vom ersten Tag an fand ich Twitter fabelhaft. Nirgendwo sonst konnte man sich so einfach mit Spitzen-Expert·innen und Thinktanks der unterschiedlichsten Bereiche vernetzen, unkomplizert den besten Medien weltweit folgen, Fachartikel lesen, für die man früher stundenlang in Uni-Bibliotheken saß, und immer wieder staunen und lachen. Twitter war eine geniale — und unfassbar schnelle — Nachrichtenagentur und gleichzeitig ein unerschöpfliches Archiv (in einem Interview mit einem deutschen Branchenmagazin habe ich 2017 ausführlich beschrieben, wie wichtig Twitter damals für meine Arbeit war).

DISKURS, DEBATTE, DISPUT

Genauso interessant fand ich die Plattform aber auch als Diskurs-Medium. Im Fernsehen senden wir, Rückmeldungen gab es früher maximal via E-Mail oder — immer seltener —im Kundendienst-Telefonprotokoll. Auf Twitter kam das Feedback noch während der Sendung, regelmäßig wurde ich auf Fehler oder Versprecher aufmerksam gemacht und konnte sie noch on air korrigieren. Nach 22h30 antwortete ich auf Kommentare zur Sendung und immer wieder fragte ich Follower um Rat. Ein gesamtes ZiB2-Interview mit einem neuen Fussball-Teamchef bestritt ich Sport-Ignorant ausschließlich mit Frage-Ideen meiner Twitter-Community.

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Armin Wolf ist Journalist und TV-Moderator. Sein Blog befasst sich v.a. mit Medien und Politik.

Armin Wolf