Buchcover

Nichtwähler-Beschimpfung

Einer der interessantesten Aspekte an diesem Wahlkampf ist ja, wer ihn für die ÖVP macht – nämlich Frank Stauss von der Berliner Agentur Butter.

Stauss ist einer der bekanntesten Wahlwerber Deutschlands, hat aber bisher ausschließlich Wahlkampagnen für Sozialdemokraten geplant – über zwanzig von Hannelore Kraft über Klaus Wowereit bis Gerhard Schröder. Jetzt arbeitet er erstmals für eine konservative Partei.

Der Sozialdemokrat Stauss ist 48, schwul und mit einem Mann verheiratet, mit dem er sich beim „Berliner Patenprojekt“ um zwei Kinder einer alleinerziehenden Mutter kümmert. Also ein doch eher unkonventioneller Background für einen ÖVP-Wahlkampf.

Porträt Frank Stauss
Foto: frank-stauss.de

Der hat auch ziemlich schlechte Kritiken. Dass das morgen doch noch etwas werden könnte mit dem „Kanzler für Österreich“, glauben mittlerweile wirklich nur mehr sehr gläubige Schwarze. Alle Umfragen sehen jedenfalls anders aus.

Aber noch bevor die Entfesselung von Michael Spindelegger begonnen hat, hat Stauss im Frühjahr ein lesenswertes Buch über seine bisherigen Wahlkämpfe herausgebracht – mit dem Titel „Höllenritt“ (dtv 2013).

Und dieses Buch endet mit einem kurzen aber ziemlich forschen Kapitel über Nichtwähler, das mir gefallen hat. Und ich dachte, das wäre an diesem Wochenende doch passend (Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors):

DEMOKRATIEGAFFER AUF DER GEGENSPUR (von Frank Stauss)

Eine der peinlichsten Floskeln von politischen Berichterstattern, Kommentatoren und leider auch von Politikern selbst lautet bei geringer Wahlbeteiligung, dass „Wählerbeschimpfungen jetzt nicht weiter helfen.“

Diese Meinung teile ich ausdrücklich nicht. Im Gegenteil. Ich bin der festen Überzeugung, dass eine geharnischte Wählerbeschimpfung zur rechten Zeit dringend geboten ist und eine ordentliche Tracht verbaler Prügel keinem der Zeitgenossen schaden kann, die am Wahltag ihren Hintern nicht ins Wahllokal bewegt bekommen.

Wie leicht muss es eine Demokratie ihren Bürgern eigentlich noch machen, wenigstens alle vier bis fünf Jahre ihr demokratisches Recht zur Stimmabgabe wahrzunehmen?

Man hört dann oft, die Parteien hätten es versäumt, die Wähler zu erreichen oder ihnen ein so attraktives Angebot zu unterbreiten, dass sie es für nötig empfunden hätten, zur Urne zu gehen. Ja, also bitte, geht’s noch? Sind wir hier auf dem Basar? Und seit wann ist es die Aufgabe der Parteien, zu 100 Prozent passende Angebote zu unterbreiten?

Ist es nicht die Aufgabe der Wähler, sich für das beste Angebot zu entscheiden, das es gibt? Wenn mein Rasierer kaputt ist, gehe ich los und kauf mir einen neuen. Wenn zehn im Regal stehen, ist der eine vielleicht zu hässlich, der andere nicht vertrauenswürdig, der dritte zu teuer. Aber einer von den zehn wird schon irgendwie passen und den nehme ich dann und geh nicht mit leeren Händen nach Hause. Denn rasieren muss ich mich ja.

Aber wählen muss ich scheinbar nicht. Demokratie scheint vielen weniger wert zu sein, als eine ordentliche Rasur. Wenn Ihnen diese Analogie nicht passt, suchen Sie sich eine neue mit Kaffeemaschinen oder Spülmaschinen, aber das Prinzip wird wohl klar.

In Deutschland gibt es gefühlt 725 Parteien, davon etwa zehn mit Chancen, sechs bis sieben mit guten Chancen. Wenn sich ein Wähler zwischen CDU, CSU, SPD, FDP, Linkspartei, Grünen, Piraten und von mir aus auch noch ÖDP, Freien Wählern und regionalen Unikaten nicht entscheiden kann – ja wessen Schuld ist es denn dann? Kommunisten, Christen, Web-Nerds, Sozen, Grüne, Liberale, Konservative, Progressive – alle stehen im Regal und man findet nichts Passendes? In diesem Fall sollte man doch besser einen Psychoanalytiker aufsuchen, denn Nichtwählen ist dann vermutlich nicht das einzige Problem, das man mit sich herumträgt.

Demokratie ist kein Selbstverwirklichungstrip, bei dem ich jemanden wählen soll, der zu 100 Prozent meine Meinung vertritt. Demokratie bedeutet, dass sich Menschen hinter einer gemeinsamen Idee versammeln, für diese Idee Mitstreiter suchen, dann eine Partei daraus machen und sich zu Wahl stellen.

Und als inaktiver Bürger habe ich dann nur noch die Aufgabe, von diesen Parteien diejenige auszusuchen, die meinen Wünschen zu 50 Prozent und vielleicht ein bisschen mehr entspricht. Die wähle ich dann und gehe wieder nach Hause. Was ist daran nicht zu verstehen?

Findet sich nun überhaupt gar keine Partei, dann habe ich immer noch die Möglichkeit, selbst eine zu gründen und zu schauen, ob die außer mir noch jemand gut findet. Oder ich gehe in eine der zahlreich vorhandenen Parteien und versuche mich dort einzubringen.

Nicht zu wählen, gar nichts zu tun und sich am Ende darüber auch noch beschweren – das geht allerdings überhaupt nicht. So kann keine Demokratie und so kann auch kein Gemeinwesen funktionieren. Schlimmer noch aber ist die Unterstützung dieser Einstellung aus der veröffentlichten Meinung und der Berichterstattung.

Mein Vorschlag zur Erhöhung der Wahlbeteiligung basiert auf einem alten Trick, der irgendwann in den 70er Jahren bei den Verkehrsdurchsagen eingeführt wurde. Bei einem Unfall auf der Autobahn bilden sich häufig Staus auf der gegenüberliegenden Seite durch vor Neugierde platzende Menschen.

Irgendwann ging man dann im sonst so nüchternen Verkehrsfunk dazu über, dies auch deutlich zu ächten: „Auf der Gegenseite kommt es zu Staus durch Gaffer.“ Großartig. Wer will schon ein Gaffer sein? Ob es genützt hat, weiß ich nicht, aber jeder wusste woran er war. Niemand kam auf die Idee, die Gaffer zu entschuldigen oder gar die Verkehrswacht oder irgendjemanden sonst für das Gaffertum verantwortlich zu machen. Schuld waren die Gaffer – und damit war die Schuld auch da, wo sie hingehört.

Man stelle sich vor die Durchsage hätte gelautet: „Auf der gegenüberliegenden Seite kommt es zu nachvollziehbaren Behinderungen durch Mitbürger, die von ihrem Recht Gebrauch machen, sich selbst ein Urteil über die Lage zu bilden und nicht blind den Einsatzkräften des Roten Kreuzes zu vertrauen.“

Die Presse hätte dann die Einsatzkräfte interviewt mit der Frage, ob sie denn ihre Rettungseinsätze nicht transparenter gestalten könnten, damit nicht immer mehr Fahrer auf der gegenüberliegenden Seite zur Eigeninitiative gezwungen würden und so weiter und so fort.

Warum also nicht auf Nichtwähler, die nichts anderes sind als Demokratie-Gaffer die gleiche Taktik anwenden. Benennen wir die Wahlverweigerer so, wie sie es verdient haben. In der Tagesschau heißt es dann: „Die Wahlbeteiligung sank auf 68,8 Prozent, was Experten auf faule Säcke, wandelnde Hirntote, verwöhnte Bälger und Volldeppen zurückführen“.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.


Man muss es nicht so drastisch sagen, wir Frank Stauss, aber trotzdem: Gehen Sie morgen wählen! Die Stimme, die in einer Demokratie am allerwenigsten bewegt, ist die, die nicht abgegeben wird.