In: Hauer, Ernest/Reithmayr, Franz (Hg.): Raus aus der Sackgasse. Ein Lesebuch zur Wende im Osten. Wien 1990: 206-209
Einem Wachposten gleich hielt er die Stellung am Eingang zum Machtzentrum der Stadt. Den Blick unaufmerksam abwesend, gedankenverloren, fast gelangweilt, aber mit hoffnungsfrohem Ernst weit in die Ferne gerichtet, beharrlich über die widrige Realität zu seinen Füßen hinweg. Die linke Hand in der Hosentasche, in der Rechten ein Buch, war er vier Meter hoch und bronzeschimmernd nicht zu übersehen: Überlebensgroß —Wladimir Iljitsch Lenin.
Das Monument, eine Schöpfung des „Nationalkünstlers” Arpad Račko, zierte die Innenstadt von Košice, des politischen und wirtschaftlichen Zentrums der östlichen Slowakei. Nicht zu Unrecht, wenn wir unserem Reiseführer Glauben schenken dürfen. Der „Aufbau des Sozialismus” in Lenins — und dieserorts vor allem in Stalins — Namen, brachte Košice nämlich „eine nie dagewesene Entwicklung”, schwärmt das von der Stadtverwaltung herausgegebene schmale Büchlein, erschienen im Frühjahr 1989. Die Industriestadt mit ihren 300.000 Einwohnern und ihrem größten Stolz, der Giftküche „Ostslowakische Eisenhüttenwerke”, einem monströsen Kind der Stalinschen Tonnenideologie, „wurde zum Zentrum des Formens des neuen Menschen”.
Der neue Mensch jedoch war undankbar.
Mitte Mai 1990 mußte W. I. Lenin abtreten, respektive sich abräumen lassen. Einfach umgelegt haben sie ihn, weggekarrt in ein düsteres Depot, wo der verdienstvolle Mann nun einem geradezu ungeheuerlichen Schicksal entgegenstaubt: Als schnödes Handelsobjekt im kapitalistischen Warenverkehr soll der Vater des neuen Menschen verhökert werden. Ein wohlhabender Abnehmer aus den USA wäre ihnen am liebsten, ließen die neuen Stadtväter verlauten: Dollars gegen Lenin — neue ökonomische Politik in wahrsten Sinn des Wortes…
Man sieht, es hat sich einiges getan in Košice, seit hier im Jahre 1945 im „Košicer Regierungsprogramm” die „Grundlage für den Aufbau des Sozialismus in unserem Land” gelegt worden ist, was immerhin noch Anfang 1989 die Autoren unseres Reiseführers zu wahren Begeisterungsstürmen animierte.
Nach mehr als 40 Jahren Bauzeit ist das Werk dann allerdings eingestürzt. Einfach zusammengekracht unter dem Druck der „Samtenen Revolution”, die, aus Prag und Bratislava kommend, mit angemessener Verzögerung, aber schließlich doch, auch diesen östlichsten Zipfel der Slowakei erreichte. Und bevor Ende Mai 1990 der neue Staatspräsident die Stadt besuchte, haben sie den spitzbärtigen Herren mit den so unpopulär gewordenen Ideen noch schnell zur Seite geschafft.
Indes — auch Václav Havel mußte noch die „Leninova” durchschreiten, die Rückbenennung des Boulevards in „Hauptstraße” war nicht mehr rechtzeitig zu schaffen. Erst Ende des Jahres werden auch diese letzten Spuren des Herrn Uljanow endgültig getilgt sein. Noch heißt die Leninova, wie sie eben heißt, wenn auch ihr Namensgeber inklusive Sockel bereits vor einigen Tagen verschwunden ist.
Wir schreiben den 22. Mai 1990 und besuchen Herrn Imrich Urbančik. Schon am Vortag haben wir ihn zum ersten Mal getroffen, rein zufällig allerdings, im Rathaus. Da hatte er jedoch keine Zeit. Heute hat er Zeit für uns und wir besuchen ihn im Weißen Haus, also dort, wo noch vor kurzem der bronzene Mann mit dem Fernblick den Eingang bewachte. Im Weißen Haus hat Imrich Urbančik sein Büro, und aus dem Umstand, daß die Tätigkeit des Herrn Urbančik die eines Ersten Sekretärs der Kommunistischen Partei der Stadt Košice ist, läßt sich ableiten, daß sich hinter der volkstümlichen Bezeichnung Weißes Haus das Hauptquartier eben jener Partei verbirgt.
200 Millionen Kronen hat die Errichtung des Gebäudekomplexes verschlungen, ein hiesiger Werktätiger mit Durchschnittslohn würde daran immerhin 5.208 Jahre und 4 Monate lang zahlen. Die Partei hat es etwas schneller geschafft, sie ließ die Gemeinde für die Baukosten aufkommen. Seit einiger Zeit ist das Haus nun fertig, aber kaum bezogen, steht es auch schon wieder leer.
370 Menschen haben bis vor kurzem hier gearbeitet, erzählt uns Imrich Urbančik, während er uns durch die ausgestorbenen Gänge führt. Heute sind es noch abgezählte sieben. Da kam sozusagen die Revolution über Košice und hat einmal gleich 363 hauptberuf- liche Avantgardisten der Arbeiterklasse erwerbslos gemacht.
Übrigens leidet auch Herr Urbančik höchstpersönlich an den Folgen der Revolution. Sekretär der Stadtpartei ist er nämlich erst seit wenigen Monaten. Davor sorgte er sich um das ideologische Erbe des eben weggeräumten Herren vor der Haustür: Als Lektor für Marxismus-Leninismus. Aber die Theorien der Gründerväter will niemand mehr hören, Imrich Urbančik versucht sich nun an der Praxis.
„Es war ein richtiger Schock für mich”, schaudert es den 36jährigen noch im Rückblick auf seine Bestellung zum Ersten Sekretär bei einer außerordentlichen Konferenz der Stadtpartei: „Ein junger Mann wie ich, der sein ganzes Leben lang nichts anderes als einen Skoda gelenkt hat, sollte plötzlich eine Partei mit 24.000 Mitgliedern führen. In der schwierigsten Phase ihrer Geschichte noch dazu.”
Was ihn denn gereizt habe an dem Job? Der schlaksige Sekretär lächelt, er lächelt übrigens oft und überaus sympathisch: „Nichts”. „Verantwortlich” habe er sich gefühlt und „geehrt”, dass ihm die Delegierten „so viel Vertrauen” entgegengebracht und ihn für „genügend kompetent” gehalten hätten für die „schwierige Aufgabe”. Immerhin — vor wenigen Monaten noch wäre Imrich Urbančik damit der mächtigste Mann der Stadt gewesen. Nun ist er der unbeliebteste: „Bis jetzt habe ich mich für einen ganz guten Menschen gehalten, der zumindest niemandem geschadet hat. Aber über Nacht bin ich zur größten Bedrohung dieser Stadt geworden.”
Wir glauben ihm die Traurigkeit. Der Mann — das ist offenkundig — fühlt sich nicht übermäßig wohl in seiner Haut. Überhaupt wirkt er ziemlich deplaziert in seinem 60-Quadratmeter-Büro. Nur einmal kommt wirkliche Freude auf — bei einem Rundgang durch die Räumlichkeiten des mittlerweile gehassten Stadt-, Bezirks- und Kreisvorsitzenden. „Vor drei Monaten bin ich hier nicht einmal bis ins Vorzimmer gekommen.”, sagt er und strahlt bis über beide Ohren. Wie ein kleiner Junge freut er sich, der seine Kameraden — in der Abwesenheit seines Generaldirektor-Vaters — verschwörerisch ins verbotene Arbeitszimmer führt.
Im Sitzungszimmer mit den üppig gepolsterten Ledersesseln um den Edelholz-Tisch und der teuren Video-Ausrüstung an der holzgetäfelten Wand wird Imrich Urbančiks sanfte Lektoren-Stimme noch eine Spur leiser, als hätte ihn der Gedanke gestreift, vielleicht doch etwas Unerlaubtes zu tun. Als hätte er sich zu weit vorgewagt, in einen Bereich, in dem er doch eigentlich nichts verloren hat. Geahnt habe er schon früher, was sich hinter den dicken Polstertüren hier verborgen hat, erzählt er, aber so genau gewußt hat er es nicht, der kleine Marxismus-Leninismus-Lektor Imrich Urbančik. Das war wohl auch besser so: „Vielleicht wollte ich es auch nicht wissen.”
Nun jedenfalls hat er es mitgekriegt und verstehen kann er jetzt schon, warum die Arbeiterklasse sauer ist auf ihre Vorhut. Die Partei müsse nun „wirklich geradestehen für alle Fehler”, sagt der Sekretär und deshalb soll sie auch ihren diskreditierten Namen behalten. Eine neue Bezeichnung: „Das wäre doch nur ein Alibi.”
Aber von vielen ihrer Grundsätze habe sich die Partei „glücklicher- weise” bereits verabschiedet in den letzten Monaten, eine „Variante des Neo-Stalinismus” sei da in den vergangenen Jahren entstanden. „Ehrlich enttäuscht” ist er aber auch, der Sekretär, und zwar über den „starken Antikommunismus” bei seinen Mitmenschen. Die meisten der entlassenen Parteiangestellten finden nämlich keine Arbeit mehr: „Niemand will sie haben.” Herrn Urbanik selbst geht es genauso, Bei mehreren Bewerbungen habe man ihm bereits gesagt, „als Fachmann würde man mich ja anerkennen, aber ich hätte halt ein großes Manko. Daß ich eben jener Urbančik bin, der die Stadtpartei übernommen hat”.
Heutzutage in Košice noch Kommunist zu sein, das sei, klagt uns der Sekretär, „ein hartes Leben”. Mitten im Wahlkampf für die Parlamentswahlen steckt er gerade. Gut schaut es nicht aus für seine Partei, wenn man den Umfragen glaubt. Sogar ein starkes Drittel der 24.000 Mitglieder hat dem einst allmächtigen Verein mittierweile den Rücken gekehrt. Was sich Herr Urbancik für die Wahlen erwartet? „Etwa 10 Prozent”.
Und was wird er nach den Wahlen machen, wenn er endgültig ausziehen muß aus dem Weißen Haus, samt seinen sieben Mitarbeitern, damit die Stadtverwaltung von Košice die schönen Büros beziehen kann? „Ein Umschulungsprogramm” will er besuchen. Politologie würde den Lektor interessieren, denn auch in Zukunft werde „die Jugend ja qualifizierte Lehrer brauchen”. Und Fremdsprachen lernen „wäre auch noch eine Möglichkeit”. Allzu optimistisch klingt er dabei nicht.
Im Wandverbau des Noch-Büros des Ersten Sekretärs verstauben — irgendwie verloren — ein paar Reliquien aus besseren Zeiten: Hammer und Sichel aus rotem Plastik, drei Lenin-Büsten mit KPČ-Inschrift und eine kleine Lenin-Statue, ein Miniatur-Abbild jener, die seit einigen Tagen das Haus nicht mehr bewacht. Herr Urbančik, der sympathische Sekretär, deutet die neugierigen Blicke seiner Besucher durchaus richtig. „Nehmen Sie sich, was sie wollen”, erlaubt er goßzügig, „dann müssen wir beim Umzug nicht so viel tragen”.
Und wieder verschwindet eine Lenin-Statue aus Košice.