In: Hauer, Ernest/Reithmayr, Franz (Hg.): Raus aus der Sackgasse. Ein Lesebuch zur Wende im Osten. Wien 1990: 46-55
Die Lagebeurteilung, die am 8. November 1989 über die Redaktionsfernschreiber tickerte, verhieß im Osten wenig Neues: „Mit einem politischen Erdrutsch wie in der DDR ist in der ČSSR vorerst nicht zu rechnen“, las man da. Und weiter: „Reformen können nur von der Partei ausgehen, eine andere relevante Gruppierung gibt es zur Zeit nicht.“ Aber nicht die amtliche ČSSR-Agentur ČTK hatte da Entwarnung gegeben, sondern der Korrespondent der unabhängigen Deutschen Presse Agentur. „Die Opposition in Prag ist zu klein“, wußte der DPA-Mann: „Was fehlt, ist eine charismatische Führungsfigur, die das Volk mitreißt.”
Genau 16 Tage später trat das Präsidium der KPČ unter der Führung des starrköpfigen Miloš Jakeš zurück, zwei Wochen darauf wurde eine Regierung angelobt, in der die meisten Minister aus dem Bürgerforum kamen, einem Sammelbecken der Oppositionskräfte, und am 29. Dezember 1989 schließlich wurde ein Mann zum Staatspräsidenten gewählt, der seitdem als Prototyp gilt für eine „charismatische Führungsfigur, die das Volk mitreißt“: Der 53jährige Dramatiker und Dissident Václav Havel, der insgesamt fünf Jahre in den Gefängnissen der KP-Diktatur verbracht und als Staatsfeind Nummer 1 gegolten hatte.
Die Novemberrevolution in der Tschechoslowakei war der schnellste unter den Umstürzen in Osteuropa, der scheinbar einfachste, der fröhlichste und sanfteste. „Samtene Revolution“ heißen die historischen Tage im November seither nach einem Wort des Dichter-Präsidenten Havel. Dabei hatte der Umbruch in Prag alles andere als friedlich begonnen.
17. November 1989: Vor der medizinischen Fakultät im Stadtzentrum Prags versammeln sich etwa 30.000 Menschen, vor allem Studenten, zu einem Demonstrationszug Richtung Vyšehrad. Dort, auf einem Hügel inmitten der prachtvollen Hauptstadt, liegen Smetana und Dvořak begraben, aber auch der große tschechische Intellektuelle und Publizist Karel Čapek. Der Friedhof gilt als nationale Gedenkstätte, als Symbol für die intellektuelle und kulturelle Tradition des Landes.
An diesem kalten Freitag marschieren die Studenten aber für einen anderen Toten: Jan Opletal, ein Prager Hochschüler, wurde 1939 von den Nazis ermordert, heute verehrt man ihn als Märtyrer, wie auch Jan Palach, der sich 30 Jahre später aus Protest gegen die sowjetische Invasion selbst verbrannte. Überraschenderweise tritt der KP-loyale Sozialistische Jugendverband SSM als Mitveranstalter des Trauerzuges auf, der Marsch ist — völlig unerwartet — offiziell genehmigt. Aber schon anhand der mitgeführten Transparente wird klar: Nicht um die nationalsozialistischen Unterdrücker von 1939 geht es den Studenten an diesem Tag, sie haben die Nachfolge-Diktatur im Visier: „40 Jahre sind genug“, verkündet ein Plakat, „Kommunisten raus!“ und „Freiheit!“ verlangen andere. Und etliche fordern Perestroika endlich auch in der ČSSR: „Wenn nicht jetzt, wann dann?“.
Aber die Polizei läßt die Menschenmenge vorerst unbehelligt Richtung Vyšehrad ziehen. Auf 50.000 ist der Zug angewachsen, als er den Friedhof erreicht — die größte Demonstration, die Prag seit 1969 gesehen hat. Am Vyšehrad löst sich die Kundgebung allerdings nicht auf, wie in der offiziellen Genehmigung vorgesehen. Die meisten Teilnehmer gehen zwar nach Hause, ein paar tausend Studenten jedoch marschieren weiter: „Auf zum Wenzelsplatz!“ — direkt ins Zentrum der Stadt. Aber so weit sollen sie nicht kommen.
In der Nationalstraße, die von der Moldau Richtung Wenzelsplatz führt, trifft der Protestzug auf die ersten Spezialeinheiten der Polizei, ausgerüstet mit Stahlhelmen, Gummiknüppeln und Plastikschilden. „Gehen Sie nach Hause!“ befiehlt der Einsatzleiter per Megaphon den Studenten. Die aber stecken Blumen hinter die Polizeischilde, zünden Kerzen an, singen erst ein paar alte Beatles-Schlager und stimmen schließlich, auf der Straße sitzend, die Nationalhymne an. Was bleibt ihnen auch übrig? — Der Weg nach Hause ist bereits versperrt. Hinter dem Protestmarsch sind weitere Spezialtruppen nachgekommen, die 3.000 Hochschüler sind eingekesselt.
Wenige Minuten nach neun beginnt dann das, was man seither in Prag „das Massaker“ nennt: Die Polizisten gehen mit bis dahin nicht gekannter Brutalität auf die friedlich dasitzenden Studenten los und prügeln sie Reihe für Reihe nieder. „Du konntest buchstäblich die Knochen splittern hören“, erzählt ein Augenzeuge später. 561 Verletzte, so weiß man heute, gibt es an diesem Abend. Das KP-Organ Rude Pravo vermeldet am nächsten Tag in altgewohnter Diktion: „Die Polizei war gezwungen, im Stadtzentrum die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Gegen 22 Uhr herrschte wieder Ruhe in der Stadt.“ Die Meldung vom brutalen Vorgehen der Polizei macht in Prag aber auch so die Runde und binnen weniger Stunden wird auch bekannt, daß die Prügelpolizisten einen Studenten namens Martin Šmid totge- schlagen haben sollen.
Šmids Freundin berichtet dem bärtigen Dissidenten Václav Benda vom Tod ihres Gefährten. Ihr hätten es die Polizisten erzählt, sagt das Mädchen. Benda gibt die Meldung an seinem Freund Petr Uhl weiter, wie Benda ein Mitbegründer der Charta 77, der seit Jahren über eine Untergrund-Presseagentur westliche Medien informiert. Auch diesmal. Am Samstag berichten die BBC und die vielgehörte Voice of America über den angeblichen Totschlag, die Empörung in Prag nimmt zu. Noch wissen nur wenige, daß es sich um eine bewußt lancierte Falschmeldung handelt, um den kalkulierten Auslöser eines geplanten Volksaufstandes.
Als die Behörden über die fix installierten Lautsprecheranlagen in der Innenstadt den Tod eines Demonstranten bestreiten, glaubt niemand das Dementi. Allen ist klar: Jetzt lügen sie schon wieder.
Samstag nachmittag: Rund 2.000 Menschen versammeln sich um die Wenzelsstatue vor dem Nationalmuseum. Sie wollen das Vorgehen der Polizei nicht mehr auf sich beruhen lassen. Zwar wurden in den vergangenen Jahren immer wieder Kundgebungen auseinandergeprügelt, aber totgeschlagen hat man noch keinen. Jetzt ist gar schon von vier Toten am Freitag die Rede, die Regierung „entfessle einen Krieg gegen das eigene Volk“, klagen die Bürgerrechtler der Charta 77 in einem „Hilfsappell an die führenden Politiker des Landes und in der gesamten Welt“. Die Situation im Land sei „gefährlich und beschämend“, das Vorgehen der Polizei ähnle „der Grausamkeit der Nazis vor 50 Jahren“.
Die empörten Demonstranten vor der Wenzelsstatue rufen zu einem Streik an allen Universitäten des Landes auf, fordern Ausstände an den Prager Theatern und proklamieren einen zweistündigen Generalstreik für den 27. November. Die Polizei umringt die Kundgebung zwar, zieht sich aber um 17 Uhr 30 überraschenderweise zurück. Am Abend streiken bereits mehr als 20 Theater in der Hauptstant. Auf den Bühnen diskutieren Studenten und Zuschauer über die Lage. Gestreikt wird auch im Nationaltheater, der Vorzeigbühne des sozialistischen Kulturbetriebes. Nur wenige hundert Meter entfernt legen schon seit dem frühen Nachmittag Passanten Blumen unter einer Laube in der Nationalstraße nieder, ein provisorischer kleiner Altar mit Dutzenden Kerzen und einem Spruchband erinnert an den Vorabend: „Hier wurde am 17. November 1989 ein wehrloser Student getötet“. Am späten Abend wird die kleine Gedenkstätte von Polizisten geräumt, Petr Uhl wegen „Weiterverbreitung falscher Information“ verhaftet.
Sonntag abend gegen 18 Uhr: Diesmal waren 50.000 auf dem Wenzelsplatz, und wieder hat die Polizei nicht eingegriffen. Einer der bekanntesten Oppositionellen, der seit Jahren mit Berufsverbot belegte Priester Václav Maly, erinnert sich: „Keine Wasserwerfer waren zu sehen, keine Scharen von Geheimpolizisten. Das war für mich ein Zeichen, daß auch innerhalb der Machtstrukturen etwas geschehen war.“ Maly trifft sich an diesem Abend in der Wohnung des Dramatikers und ersten Charta 77-Sprechers Václav Havel am Moldauufer mit einer kleinen Gruppe alter Mitstreiter aus der Charta und dem Komitee zur Verteidigung zu Unrecht Verfolgter.
Havel selbst ist natürlich da, der Charta-Sprecher Saša Vondra, die Dissidenten Rudolf Battek, Jiři Križan und Ladislav Lis. Havel liest eine eben verfasste Erklärung mit mehreren Forderungen vor: Rücktritt jener kommunistischen Funktionäre, die 1968 die Invasionstruppen des Warschauer Paktes ins Land riefen und nun „die Verantwortung für die Verheerung in all Lebens tragen“, Untersuchung der Polizeiübergriffe vom Freitag, Freilassung aller politischen Gefangenen und umfassender Dialog mit der Opposition.
Alle Anwesenden sind mit der Erklärung einverstanden, miteinander gehen sie die kurze Strecke in das kleine Theater Činoherni Club hinüber. Der Zuschauerraum faßt etwa 200 Leute, auf der Bühne steht die Gruppe aus Havels Wohnung, dazu noch der enge Havel-Freund Jiři Dienstbier, der Außenminister des Prager Frühlings Jiři Hajek, einige Charta-Aktivisten und — eine politische Sensation — Jan Škoda, der Generalsekretär der Sozialistischen Partei, eines bis zur Stunde allzeit treuen KP-Satelliten.
Havel verliest die mitgebrachte Erklärung, wieder wird diskutiert, auch über einen Generalstreik am 27. November. 15 Personen unterschreiben das Papier schließlich, die Gruppe nennt sich Občanske Forum — Bürgerforum. Wenige Tage später kennt das ganze Land die Bewegung unter dem Kürzel OF.
In den Abendnachrichten des Fernsehens werden erstmals Bilder von der Demonstration am Samstag gezeigt, die Kultursendung meldet gar den Streik in den Theatern. Neuerlich dementiert das Fernsehen den Tod von Martin Šmid. Interviews mit zwei Studenten dieses Namens werden gesendet, einen Martin Šmid gebe es nicht, heißt es in den Nachrichten. Aber noch immer glauben alle, was schon auf einigen Hausmauern steht: „Das Fernsehen lügt”.
Montag früh: Die Tageszeitung der Sozialistischen Partei Svobodne Slovo wartet mit einer Bombe auf. Erstmals seit Jahrzehnten wird das Blatt seinem Namen Freies Wort gerecht. In einer Erklärung der Blockpartei wird „das Vorgehen der Polizei aufs Schärfste verurteilt”, so etwas hat es auf den Seiten des braven Parteiorgans noch nicht gegeben. Und auch die stets regimefromme katholische Volkspartei zeigt erstmals vorsichtige Distanz zur Staatsmacht.
In der Innenstadtgalerie „U Reičickych“ sitzen unterdessen die Gründer des Bürgerforums beieinander. „Wir rätselten, ob sich auch an diesem normalen Arbeitstag Mensche zu einer Demonstration am Wenzelsplatz versammeln würden“, erzählt Václav Maly später: „Zu unserer Überraschung kamen aber nicht 5.000 oder 10.000, sondern mindestens 80.000.“ Nachrichtenagenturen berichten gar von 200.000 Demonstranten, die neuerlich den Rücktritt der KP-Führung verlangen. „Eure Stunde hat geschlagen“, hallt es tausendfach über den Platz, immer wieder skandiert die Menschenmasse die Namen von Parteichef Miloš Jakeš, des Prager KP-Chefs Miroslav Štepan und des Staatspräsidenten Gustav Husak.
Aber erstmals wird nicht nur in der Hauptstadt demonstriert, 20.000 gehen in Brünn auf die Straße, 10.000 sind es in Bratislava, Tausende in Ostrava und Liberec. An fast allen Universitäten im Land wird gestreikt und — ein weiterer Erfolg — das Fernsehen berichtet erstmals ausführlich und einigermaßen objektiv über das Tagesgeschehen.
Die KP-Führer selbst hingegen demonstrieren vorerst noch Härte, verbal zumindest. Bei einer Sitzung des 13köpfigen Präsidiums weist die Parteiführung jede Kritik zurück und verteidigt das Vorgehen der Polizei vom Freitag. Der 63jährige Miloš Jakeš warnt bei einer Versammlung am Abend vor „Versuchen anti-sozialistischer Kräfte, Chaos und Anarchie im Land zu schaffen“.
Aber „Chaos und Anarchie“, das will auch das Bürgerforum nicht. Am Dienstag möchten die Forum-Aktivisten am Wenzelsplatz eine Erklärung abgeben. „Man kann doch die Leute nicht nur schreien lasen”, sagt Václav Maly: „Man muß ihnen ein Programm anbieten.“
Über Nacht ist die ganze Innenstadt mit Plakaten und Zetteln an Hauswänden und Schaufenstern übersät, gleich drei bislang linientreue Zeitungen erscheinen mit der Erklärung des Bürgerforums und dem Aufruf zum Generalstreik am Montag. Die in der Nationalen Front gleichgeschalteten Blockparteien solidarisieren sich mit den Forderungen der Opposition, die erstarrten Machtstrukturen zeigen die ersten Erosionserscheinungen.
Und am Nachmittag sind wieder 200.000 am Wenzelsplatz.
Vom Balkon des Verlagshauses der Sozialistischen Partei verliest Václav Maly eine Botschaft des greisen Prager Kardinals František Tomašek. Der über 90jährige wird in dem Brief noch einmal kämpferisch: „Wir können nicht mehr warten! Wir brauchen eine demokratische Regierung!“ Václav Havel, der ruhige, besonnene Intellektuelle, verlangt mit ungewohnt kräftiger Stimme den Rücktritt der KP-Führung. „Bestrafen! Bestrafen!“ donnert es aus hunderttausend Kehlen durch die Stadt. „Freiheit! Freiheit!”, fordern sie immer wieder, und das minutenlange Geläute tausender kleiner Glocken und das Gescheppere zahiloser Schlüsselbunde soll die verhassten KP-Bonzen an den ewig wiederkehrenden Schlußsatz tschechischer Kindergeschichten erinnern: „Die Glocke ertönt; und das Märchen ist zu Ende.“
Aber noch ist ein happy end keineswegs sicher. Auch wenn neuerlich im ganzen Land demonstriert wird, in nahezu jeder größeren Stadt. Prag ist voll von Gerüchten: Panzer sollen vor der Stadt aufgefahren sein, die Partei habe ihre gefürchteten Arbeitermilizen mobilisiert, eine „chinesische Lösung“ stehe bevor, inszeniert von den Stalinisten Jakeš und Štepan. Aus der Armeeführung kommen unterschiedliche Meldungen: Einmal heißt es, die Militärs würden keinesfalls gegen das eigene Volk vorgehen, dann wieder, die Armee stehe bereit, „die Errungenschaften des Sozialismus zu verteidigen“. Erst viel später erfährt man, daß die Ausrufung des Kriegsrechtes in höchsten Parteikreisen ernsthaft diskutiert worden ist.
Aber es gibt auch positive Signale. Gegen Mittag bereits hat der kommunistische Premierminister Adamec drei Abgesandte des Forums empfangen. Sein Resümee bringt zwar keine Neuigkeiten — „Der Sozialismus steht nicht zur Diskussion“ —, aber das Treffen an sich ist ungewöhnlich genug. Ladislav Adamec ist für die Oppositionellen einer der Hoffnungsträger in der Partei. Trotz aller formelhaften Rhetorik gilt er als vorsichtiger Reformer, als Gegenpol zu den Hardlinern um die sogenannte „Viererbande“ aus Jakeš, dem Chefideologen Jan Fojtik, dem Sicherheitschef der Partei Karel Hofmann und Alois Indra, dem starrsinnigen Parlamentspräsidenten.
Viele Ansprechpartner für die Opposition gibt es in dieser Parteiführung nicht. Die „Normalisierung” nach 1968, die brutalste Säuberung seit den stalinistischen Massenhinrichtungen hat die KPČ nahezu um ihr gesamtes Reformpotential gebracht. 450.000 Kommunisten verloren ihr Parteibuch, sämtliche kritischen und kreativen Geister waren darunter. Übrig blieb eine Betonriege, die seit 1968 in beinahe unveränderter Zusammensetzung regiert.
Der innerparteiliche Reformgeist beschränkt sich auf die unteren Funktionärsränge. Vor allem in den zahlreichen wissenschaftlichen Instituten formiert sich seit Jahren der Unwille der jüngeren Kader gegen die dogmatische Unbeweglichkeit an der Parteispitze. Viele ahnen, dass die Tschechoslowakei nur schwerlich als letzte Insel des Realsozialismus im sich auflösenden Ostblock bestehen wird können — eingekreist von lauter ehemaligen Bruderländern auf Reformkurs: einer Gorbatschow-regierten Sowjetunion, einem Solidarność-Polen, einem Ungarn, in dem sich die KP gar selbst auflöst, und jetzt auch noch einer zusammenbrechenden „Wir sind das Volk“-DDR.
Aber in der Führung ist diese Erkenntnis noch nicht allzuweit verbreitet. Die Unzufriedenheit dort kommt vor allem aus den Karrieresüchten der nachdrängenden 40jährigen, die — in der „Normalisierung” großgeworden — die Greise an den Schaltstellen endlich in die Rente schicken und selbst regieren wollen. Als wirklich reformwillig gilt nur der ehemalige Premierminister Lubomir Štrougal, der eben wegen seiner allzu liberalen Politik aufs Abstellgleis geschoben wurde. Štrougal gilt als Förderer seines Nachfolgers Adamec, der zumindest endlich Dialogbereitschaft zeigt. Aber ein Gespräch mit Václav Havel — zweifellos Kopf der Oppositionsbewegung — verweigert Adamec an diesem Mittwoch noch mit knappem Kommentar: „Verfrüht“. Immerhin — einige Monate vorher noch hat er Havel „eine Null“ genannt.
Mittwoch und Donnerstag nachmittag: Jeden Tag nun die bekannte Szenerie auf dem Wenzelsplatz. Aber täglich wird die Menge größer, am Rand des Platzes werden die Leute an den Hauswänden fast erdrückt. Miloš Jakeš warnt im Fernsehen wiedereinmal vor „Streiks, Chaos und Anarchie“, am Wenzelsplatz wird er ausgelacht. „Jakeš an die Schaufel!“, verlangen die Demonstranten und wünschen ihm damit das, was Jakeš jahrelang Dissidenten verordnet hat: Schweißtriefend in einem Heizkeller zu schuften. Das Fernsehen überträgt die Demo am Mittwoch erstmals live, bis ein Arbeiter vom Svobodne Slovo-Balkon entrüstet ruft, was ohnehin jeder weiß: „20 Jahre lang hat man uns angelogen!“ Die TV- Übertragung bricht ab. Am Donnerstag wird das Fernsehzentrum von der Geheimpolizei besetzt. Aber erstmals sind auch Delegationen aus Industriebetrieben am Wenzelsplatz, die größte Sorge der Forum-Aktivisten wird langsam kleiner: Der Protest erfaßt zunehmend auch die lange lethargischen Arbeiter. Hunderttausende demonstrieren auch in den Provinzstädten, in der slowakischen Hauptstadt Bratislava hat sich ein Gegenstück zum Prager Bürgerforum gebildet: Verejnost proti nasiliu, auf deutsch: Öffentlichkeit gegen Gewalt.
Freitag, 24. November: Für den Abend ist eine Krisensitzung des KP-Zentralkomitees einberufen, aber bereits am Nachmittag erlebt Prag einen neuen Höhepunkt. Mehr als 300.000 singen, jubeln, lachen und schreien am Wenzelsplatz — und Tausende weinen. Auf dem Balkon des SP-Verlagshauses nämlich steht einer, mit dessen traurigem Gesicht die meisten die einzige — kurze — Hoffnung der vergangenen 40 Jahre verbinden: Alexander Dubček, zum ersten Mal seit 1969 wieder in Prag, winkt neben Havel vom Balkon und kämpft gegen die Tränen. „Dubček! Dubček!“-Chöre hallen über den Platz.
Wieder verliest Václav Maly eine Botschaft von Kardinal Tomašek, Dubček spricht von der „Rückkehr zu den Idealen von einst“, dann redet Havel. Marta Kubišova stimmt die Nationalhymne an. Bis 1969 war sie die bekannteste Sängerin des Landes, dann wurde sie mit Berufsverbot belegt. 300.000 singen mit.
Freitag abend, 19 Uhr 30: Im weltbekannten Theater Laterna Magica, nur wenige Meter vom Wenzelsplatz, beginnt die Pressekonferenz des Bürgerforums. Jeden Tag seit Dienstag informieren hier die Forum-Leute, angeführt von Václav Maly, den täglich wachsenden internationalen Journalistenpulk. Gut 300 Berichterstatter drängen sich im völlig überfüllten Theater, auf der Bühne neben Maly auch Havel, Dubček, Hajek und Dienstbier. Die Männer auf der Bühne mit ihren grauen, übermüdeten Gesichtern bekräftigen immer wieder die Bedeutung des Generalstreiks am Montag, zwei Stunden lang soll das ganze Land stillstehen, sollen die Arbeiter ihre Solidarität mit den Demonstranten beweisen. Ei- ne „Volksabstimmung“ über die wahren Machtverhältnisse im Land soll es werden.
Kurz vor acht — Havel spricht gerade — steigt ein Mann aus den Kulissen kommend auf die Bühne und flüstert Václav Maly grinsend etwas ins Ohr. Maly schaut verblüfft zurück, der Mann setzt sich an den langen Tisch und grinst weiter. Kaum einer der Journalisten hört mehr auf Havel, jeder spürt, hier geht was vor. „Wir sollten für eine wichtige Nachricht unterbrechen“, strahlt Maly, der Moderator, über sein ganzes rundliches Gesicht und der grinsende Gast verkündet den ersten Etappensieg: Jakeš und die ganze Parteiführung seien „soeben zurückgeneten“.
Selten hat man 300 internationale Journalisten in solcher Stimmung gesehen. Sie applaudieren und jubeln, fallen einander in die Arme, als wären sie es gewesen, die jahrelang als Dissidenten in Heizkellem geschwitzt hatten, einige weinen gar. Als Havel auf der Bühne Alexander Dubček küsst, spenden die begeisterten Berichterstatter hingerissen standing ovations. Havels erster ruhiger Kommentar inmitten des Tumultes: „Jetzt ist es wohl Zeit für Champagner.“ Das Foto der einander zuprostenden Havel und Dubček geht um die Welt.
Um drei Uhr früh gibt ein Sprecher der KPC auf einer mehrfach verschobenen Pressekonferenz die Ergebnisse der ZK-Sitzung bekannt: Das gesamte Präsidium wurde neu gewählt, Parteichef ist der kaum bekannte 48jährige Karel Urbanek. Jakeš mußte gehen, aber der verhaßte Prager Parteichef Stepan sitzt auch im neuen Präsidium, ebenso einige der alten Dogmatiker. Premierminister Adamec sei aus der KP-Führung „auf eigenen Wunsch“ ausgeschieden und habe auch seinen Rücktritt als Premier angekündigt, verlautbart der Parteisprecher.
Samstag, 11 Uhr vormittag: Kardinal Tomašek zelebriert im Veitsdom auf dem Hradschin eine Messe zu Ehren der Heiligen Agnes von Böhmen, Zehntausende beten bei bitterer Kälte vor dem Dom — der erste Dankgottesdienst. Vier Stunden später versammelt sich wieder eine gewaltige Menschenmenge, allerdings nicht in der Innenstadt, sondern auf der Letna, einem riesigen Platz in der Nähe des Hradschin. Der Wenzelsplatz ist zu klein geworden, mehr als eine halbe Million Menschen sind gekommen.
Wieder moderiert Maly, reden Havel und Dubček, singt Marta Kubišova. Aber es sprechen auch neue Gäste: Petr Uhl kommt direkt aus dem Gefängnis und entschuldigt sich für die Falschmeldung vom Tod Martin Šmids. Wie sie zustandegekommen ist, weiß er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Auch Jiři Ruml, ein alter Havel-Freund, reist aus dem Gefängnis an, ebenso Jan Čarnogursky, ein bekannter katholischer Dissident aus der Slowakei. Petr Miller überbringt eine Grußbotschaft der Ar- beiter aus dem traditionsreichen ČKD-Betrieb in Prag und drei Polizisten entschuldigen sich auf offener Bühne für das Vorgehen ihrer Kollegen am 17. November. Auf dem gewaltigen Platz wird gesungen, gelacht und getanzt — eine Siegesfeier, vom Fernsehen live ins ganze Land gesendet.
Sonntag mittag: ein weiterer Durchbruch. Ladislav Adamec trifft den „Staatsfeind“ Havel zu einem ersten Gespräch, die Regierung bietet Zugeständnisse an. Am Nachmittag sind wieder Hunderttausende auf der Letna. „Adamec! Adamec!”-Sprechchöre begrüßen den Noch-Regierungschef. Aber in diesem Moment macht Adamec entscheidende Fehler. Er solidarisiert sich zwar mit den Forderungen der Demonstranten, schränkt aber gleichzeitig ein: „Nicht alles steht in der Macht der Regierung.” Erste Unmutsäußerungen in der Menge antworten. Als Adamec dann gar empfiehlt, am Montag nicht zwei Stunden, sondern nur zwei Minuten lang zu streiken, hat er innerhalb einer Viertelstunde alle Sympathien verloren. „Nein, zwei Stunden!“ schallt ihm entgegen, enttäuschte Pfiffe gellen über den Platz, das Urteil der Demonstranten ist eindeutig: „Zurücktreten, zurücktreten!“.
Adamec, eben noch von der ungewohnten Popularität gerührt, ringt mit den Tränen — seine politische Karriere ist vorbei. „Die Rede war schrecklich“, meint Václav Maly im Rückblick: „Er hat sich alle Chancen ruiniert“. Und Maly über den neuerlichen Auftritt Alexander Dubčeks: „Er wurde bejubelt. Aber vor allem wegen seiner unveränderten Sprache ahnten die Leute, daß er keine Hoffnung für die Zukunft sein kann. Er ist ein aufrichtiger Mann, aber es ging jetzt nicht mehr um einen ‚Sozialismus mit menschlichem Antlitz‘, sondern um wirklichen Pluralismus. Havel war das wirkliche Symbol, Dubeek nicht mehr.“
Montag, 27. November, 12 Uhr. Maly: „Der alles entscheidende Augenblick“. Im ganzen Land läuten die Kirchenglocken und heulen die Fabriksirenen. Zwei Stunden später ist klar: Es war das Requiem für die kommunistische Diktatur. Alle größeren Betriebe im Land schließen sich dem Generalstreik an, das Land steht still, zwei Stunden lang. Der Schulterschluß der Arbeiter mit der anfangs studentisch-intellektuellen Opposition ist total.
Zwei Tage später streicht das Parlament die „Führungsrolle der Kommunistischen Partei“ aus der Verfassung. Die Diktatur der Betonköpfe über das Proletariat: Per Abstimmung abgeschafft. Ladislav Adamec wird mit der Bildung einer Koalitionsregierung beauftragt, er scheitert aber. Zu viele diskreditierte Kommunisten sitzen in seinem Kabinett, das Bürgerforum —Wortführer am neugeschaffenen „Runden Tisch“ — sagt Nein. Adamec resigniert, der bislang unauffällige Vizepemier Marian Čalfa beginnt neue Verhandlungen.
Am 10. Dezember steht die Regierung, unmittelbar nach ihrer Angelobung tritt Staatspräsident Gustav Husak zurück. In der Koalition sind die Kommunisten in der Minderheit, im Lauf der nächsten Monate werden die meisten von ihnen die KP verlassen. Die Mehrzahl der neuen Minister kommt aus dem Bürgerforum: Jiři Dienstbier, einst Journalist und dann in den Heizkeller verbannt, wird Außenminister; Petr Miller, der ČKD-Arbeiter, leitet das Sozialressort; Jan Čarnogursky, der katholische Aktivist, wird zum Vizepremier ernannt.
Und die anderen? Petr Uhl: Direktor der amtlichen Nachrichtenagentur ČTK. Jiři Ruml: Chefredakteur der endlich legalisierten Lidove Noviny, der wichtigsten Tageszeitung im Land. Václav Maly: Pfarrer in Prag 5. Alexander Dubček: Parlamentspräsident. Ladislav Lis und Rudolf Battek: Abgeordnete. Jiři Križan und Saša Vondra: Berater des Staatspräsidenten. Und dieser heißt am 29. Dezember 1989: Václav Havel.
Die Folgen eines gewaltigen Irrtums.
Der angeblich tote Student Martin Šmid hieß in Wahrheit nämlich Ludvik Živcak, Leutnant der berüchtigten Staatspolizei StB. Während der Demonstration am 17. November ist der Geheimpolizist einer der Anführer Richtung Wenzelsplatz. Er dirigiert den Protestzug durch die Nationalstraße, wo seine Kollegen eine sorgfältig konstruierte Falle aufgebaut haben. Während der Prügelorgien läßt sich Zivcak scheinbar tot zu Boden fallen, wird mit einem Leintuch bedeckt und abtransportiert. Eilig verbreiten Geheimpolizisten den angeblichen Mord. In einem StB-Gebäude in Prag konferieren unterdessen General Alois Lorenc, Chef des StB, General Toslenko, Leiter der KGB-Steile in Prag, und General Viktor Grushko, der Vizechef der Moskauer KGB-Zentrale und erst drei Tage zuvor eingeflogen.
Diese drei Männer, so berichtet die BBC nach monatelangen Recherchen, sind die Köpfe eines KPČ-internen Putschversuches mit kräftiger Hilfe aus dem Gorbatschow-regierten Moskau. Die Eskalation der Demonstration vom 17. Noveraber ist von ihnen inszeniert, die Empörung der Massen über den angeblichen Toten nacktes Kalkül. Seit gut einem Jahr, so die BBC, schmieden die parteiinternen Verschwörer an ihrer Operation „Keil“.
Systematisch sollte in einem ersten Schritt die Opposition infiltriert werden. Durch einen inszenierten Volksaufstand würde dann die verkrustete Parteiführung aus dem Amt gefegt, eine neue, Gorbatschow-orientierte KP-Spitze würde mit der geschwächten und zersplitterten Opposition Verhandlungen ohne allzu gewichtige Zugeständnisse führen.
Der plötzliche Zusammenbruch des Honecker-Regimes im Nachbarland DDR gibt den Putschisten in der Partei den letzten Anstoß. Ein gefälschter Todesfall bei der Gedenk-Demonstration am 17. November soll den Zündfunken für den Volkszorn gegen Miloš Jakeš und seine Beton-Genossen bieten. Bis hierher läuft der Plan der Konspirateure wie am Schnürchen, ihr eigentliches Vorhaben allerdings — die Übernahme der Macht im Land —scheitert binnen weniger Tage fatal.
Die Operation „Keil“ leidet nämlich, urteilt die BBC, „an einer zentralen Fehlkalkulation“. Das tschechoslowakische Volk „wollte vom Reformkommunismus nichts mehr wissen“. Der Partei-Sekretär von 1968 und politische Kopf des Prager Frühlings Zdenek Mlynař sei der Mann der Reformer für den KPČ-Vorsitz gewesen, erzählt das ZK-Mitglied Rudolf Hegenbarth den BBC-Rechercheuren. Der einstige Dubček-Vertraute habe jedoch bei einer Zusammenkunft in Prag die Übernahme des Chef-Sessels abgelehnt. Mlynař, seit 1977 im österreichischen Exil, dementiert auf Anfrage allerdings jede Beteiligung an irgend welchen Verschwörungen. Er habe „niemals mit irgendjemandem“ in Prag über eine Rückkehr in die KP- Führung verhandelt. Einen parteiinternen Umsturzversuch und eine Verwicklung des KGB in die Anfänge der Prager Revolution möchte Mlynai allerdings „nicht ausschließen“.
Milan Hulik, Mitglied einer Prager Kommission, die die November-Vorgänge untersucht, wird im BBC-Interview deutlicher: „Wir können keine anderen Schlußfolgerungen ziehen, als dass die gesamte Angelegenheit den Segen der sowjetischen Führung gehabt hat.“ Wohl selten hat jemand so weit übers Ziel geschossen.
Am 8. und 9. Juni 1990 finden in der nunmehrigen Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik freie Parlamentswahlen statt: Das Bürgerforum und die Öffentlichkeit gegen Gewalt gewinnen dabei die absolute Mehrheit, in der ersten demokratisch gewählten Regierung seit 42 Jahren sitzen die beiden Bürgerbewegungen und die slowakischen Christdemokraten von Jan Čarnogursky. Die KPČ unter der Führung ihres sechs Monate zuvor gewählten Vorsitzenden Ladislav Adamec bekommt gerade 13,6 Prozent der Stimmen.
Der KGB war auch schon erfolgreicher.