Warum das 20. Jahrhundert erst 2024 zu Ende ging

Eigentlich wieder kein Lesezeichen, sondern etwas zum Anhören — aber auch diesmal war die geopolitische Jahresbilanz, die der brillante Politologe Ivan Krastev Anfang Dezember im Wiener Presseclub Concordia im Gespräch mit Mirjana Tomic gezogen hat, ein intellektuelles Highlight, das ich sehr empfehlen kann.

Krastev mit Interviewerin im Presseclub Concordia


In einer guten Stunde können Sie hier hören (Podcast) oder hier sehen (YT-Video), warum Krastev nicht an das “kurze 20. Jahrhundert” von Eric Hobsbawm von 1914 bis 1989 glaubt, sondern an ein langes 20. Jahrhundert von 1914 bis 1924. Warum vielleicht nicht der Fall der Berliner Mauer das zentrale Ereignis des Jahres 1989 war, sondern das Niederwalzen der Studentenproteste am Pekinger Tiananmen-Platz oder der sowjetische Abzug aus Afghanistan. Und warum mit Donald Trump der amerikanische Exzeptionalismus endet — und das China ermuntern könnte, Taiwan anzugreifen.

Generation Social Media

Die heute 20jährigen sind die erste Generation, die so mit Social Media aufgewachsen ist wie die 50jährigen mit dem Fernsehen und die 35jährigen mit dem Internet. Aber was macht die Dauernutzung von sozialen Medien mit den Jugendlichen? Der amerikanische Sozialpsychologe Johnathan Haidt ist davon überzeugt, dass die Auswirkungen verheerend sind – von Angstzuständen über Depressionen bis zum Suizid. Haidt fordert deshalb: Keine Smartphones in Schulen und keine sozialen Medien für Jugendliche unter 16.

Australien ist jetzt das erste Land, das ein gesetzliches Social Media-Verbot für Unter-16-Jährige einführt. Aber was weiß man tatsächlich über die Konsequenzen von sozialen Medien für Jugendliche? Diesen Text darüber hat Online-Expertin Ingrid Brodnig in ihrem – immer lesenswerten – Newsletter empfohlen:

Screenshot mit Link zum New Yorker-ArtikelTHE NEW YORKER, 30.9.2024

Die besten Texte 2024

Seit einigen Jahren bin ich Mitglied der Jury für den Reporter·innen-Preis, einer der renommiertesten Auszeichnungen für Print- und Online-Journalismus im deutschsprachigen Raum. Ich darf dort jeden Herbst gemeinsam mit fabelhaften Kolleg·innen den jeweils besten Text in den Kategorien „Investigation“ und „Wissenschaft“ auswählen. Heute Abend werden die Auszeichnungen in Berlin verliehen.

Aber alle Texte in allen Kategorien, die eine Vorjury ausgewählt hat, gibts auf der Seite des Reporterforums auch online – und sie sind fast alle fantastisch. Es ist eine Art Best of des deutschsprachigen Text-Journalismus 2024 und man kann sich einfach stundenlang querdurch lesen. Viel Vergnügen!

Titelbild Website Reporterpreis 2024

Nachtrag vom 3.12.2024: Und hier gibts die “Sieger-Texte”, die mit den Reporter·innen-Preisen 2024 ausgezeichnet wurden.

Wer ist Kamala Harris?

Nun hat Joe Biden doch seine Kandidatur zurückgezogen – erst als dritter US-Präsident in einem laufenden Wahlkampf (Truman 1952 und Johnson 1968 gab ihren überraschenden Verzicht allerdings schon Ende März bekannt). Wer ihm als Kandidat der Demokraten nachfolgt, entscheidet formal der Wahlparteitag ab 19. August in Chicago. Aber Biden hat schon heute seine Vizepräsidentin Kamala Harris vorgeschlagen – und damit wohl de facto einzementiert.

Gegen den mehrfach verurteilten Donald Trump wäre Harris an sich eine Kandidatin wie von Wahlkampf-Strategen auf dem Reißbrett entworfen: eine ehemalige Staatsanwältin und Chefanklägerin mit dem Image „tough on crime“ zu sein, eine Frau, schwarz, mit asiatischen Wurzeln.

Und trotzdem schlägt ihr – auch in ihrer eigenen Partei – sehr viel Skepsis entgegen. Als Vizepräsidentin hat sie sich nach anfänglichen Patzern kaum profiliert, ihre öffentlichen Auftritte wirken mitunter seltsam und ihre Umfragewerte sind kaum besser als die des Präsidenten. Aber es gibt auch US-Kommentator·innen, die Harris für schwer unterschätzt halten: Jenseits großer Bühnen sei sie charismatisch, schlagfertig, klug, fleißig und präzise – und ihr Imageproblem sei auch vom Weißen Haus produziert.

Sehr viel davon findet sich in diesem sehr langen, differenzierten und lesenswerten Porträt vom vergangenen Herbst, das informativste, das ich bisher kenne.

Screenshot mit Link


THE ATLANTIC, 10.10.2023

Kinder, Klima, Krise

Wenn der deutsch-Schweizer Journalist Constantin Seibt einen großen Text schreibt, lohnt es sich immer, ihn zu lesen. In diesem Fall aber ganz besonders. Nicht nur, weil er – wie immer – brillant geschrieben ist, sondern weil der Inhalt so wichtig ist.


Screenshot mit LinkREPUBLIK, 19.6.2024

6 Mythen über Politik

Wieder ein Tipp zum Hören statt zum Lesen (ich sollte die Rubrik langsam umbenennen), aber ich bin schon seit Jahren ein Fan des „Erklär mir die Welt“-Podcasts von Andreas Sator, in dem er gemeinsam mit Fachleuten die unterschiedlichsten Themen für Laien erklärt. Und zwar so, dass man sie wirklich versteht.

Mehr als 300 Folgen gibt es davon bereits (in einer hat Andreas mit mir über Journalismus gesprochen) – und in Episode 304 hat er nun den Wiener Politologen Laurenz Ennser-Jedenastik zu Gast, der nicht nur ein exzellenter Wissenschafter ist, sondern auch ein ganz hervorragender Politik-Vermittler (übr. auch auf Twitter).

In zwei Stunden kann man hier wirklich viel über Politik in Österreich und generell lernen:

„Menschen zusammenbringen“

In Deutschland ist nach dem Auffliegen der „RBB-Affäre“ eine große Debatte über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk entstanden. Die Bundesländer, die für alle Rundfunk-Angelegenheiten zuständig sind, haben daraufhin im März 2023 einen „Zukunftsrat“ eingesetzt, eine Kommission aus Expert·innen, geleitet von der früheren Gruner&Jahr-Managerin Julia Jäckel.

Dieser Zukunftsrat sollte ein Programm ausarbeiten, wie man den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der in Deutschland aus neun ARD-Landesanstalten, dem ZDF und dem Deutschlandfunk besteht, besser organisieren kann. Jetzt wurden diese Empfehlungen präsentiert. Hier der gesamte Bericht zum Nachlesen:

Deckblatt Bericht des Zukunftsrats

2024: Wird schwierig

Dieser Tipp ist eigentlich kein „Lesezeichen“, sondern ein Hinweis zum Hören – auf ein ca. einstündiges Gespräch mit dem brillanten Politikwissenschafter Ivan Krastev über seine Aussichten auf das Jahr 2024.

Der 58jährige Bulgare ist einer der weltweit renommiertesten „public intellectuals“ und politischen Analytiker und was nicht allzu viele Menschen wissen: Er lebt und arbeitet seit vielen Jahren großteils in Wien am IWM, dem – in Österreich viel zu wenig beachteten – Institut für die Wissenschaft vom Menschen.

Krastev ist fantastisch informiert, ungewöhnlich gut (auch mit internationalen Spitzenpolitiker·innen) vernetzt, ein origineller Denker und begnadeter Formulierer. Ich kenne kaum jemanden, der politische Phänome und Entwicklungen so prägnant auf den Punkt bringen kann wie Krastev, wenn er z.B. in diesem Gespräch sagt: „Bei der EU-Wahl vor fünf Jahren war Migration das polarisierende Thema und der Klimawandel das einigende. Diesmal ist es umgekehrt.“ Oder: „Putin lügt gerne über die Vergangenheit. Aber bei seinen Plänen für die Zukunft sollte man ihm besser glauben.“ Oder: „Orban und Erdogan wollen nicht Trump oder Putin nachmachen. Ihr Vorbild ist Netanyahu.“

Hier finden Sie den hörenswerten Audio-Mitschnitt (Englisch) aus dem Wiener Presseclub Concordia vom 12. Dezember 2023 auf Youtube (und hier auf Spotify):

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Armin Wolf ist Journalist und TV-Moderator. Sein Blog befasst sich v.a. mit Medien und Politik.

Armin Wolf