Fluten wir die Wutmaschinen mit Journalismus!

Ich finde ja, dass Social Media den öffentlichen Diskurs ziemlich versaut haben. Trotzdem bin ich überzeugt davon, dass es auf Social Media seriösen Journalismus geben muss und dass professionelle Medien dort aktiv sein sollen.
Dieser Text wurde zuerst im PROFIL 39/22 veröffentlicht:


Mitte September tauchte auf WhatsApp ein Video auf, das sich rasant verbreitete. Es zeigt eine scheinbar endlose Schlange von Flüchtlingen entlang einer burgenländischen Landstraße nahe der Grenze zu Ungarn. „Das siehst du nicht im ORF“, raunt eine Stimme aus dem Off: „Auch die Polizei verhindert solche Aufnahmen. Wir werden verarscht, aber so richtig!“ Am 13. September stellte die FPÖ diese Bilder auf ihren YouTube-Kanal und schrieb dazu: „Burgenland im Jahr 2022. … Es ist der pure Wahnsinn. … Unsere Grenzen [werden] regelrecht überrannt. … Solche Bilder bekommt man in den Mainstream-Medien allerdings nicht zu sehen.“

Stimmt. In seriösen Medien waren diese Bilder letzthin nicht zu sehen. Das Video ist nämlich sieben Jahre alt, vom Höhepunkt der Flüchtlingskrise im September 2015, wie das Faktencheck-Team des PROFIL sehr schnell herausgefunden hat. Da hatten das Fake-Video allerdings schon Zehntausende auf Social Media gesehen und sehr entrüstet geteilt.

Mehr als sechs Millionen Menschen in Österreich nützen Social Media, die unter 30-Jährigen nahezu alle. Von den 18–24-Jährigen lesen hierzulande gerade noch 14 Prozent gedruckte Zeitungen, doppelt so viele klicken zumindest die Websites von Zeitungen an, und knapp 40 Prozent konsumieren Nachrichten auch in Radio und Fernsehen, wie wir aus dem Reuters Digital News Report 2022 wissen, der umfassendsten Bestandsaufnahme zur Mediennutzung im Land.

SOCIAL MEDIA ALS NACHRICHTENQUELLE

Aber 63 Prozent der Jungen geben als Nachrichtenquelle soziale Medien an, von WhatsApp über YouTube bis Instagram, immer weniger nennen dabei Facebook, immer mehr dafür TikTok. Doch selbst von den über 55-Jährigen, den treuesten Zeitungslesern und ZIB-Seherinnen, bekommen 41 Prozent auch Nachrichten via Social Media.

Der legendäre Ex-ORF-Chef Gerd Bacher hat Journalismus einmal als Unterscheidung definiert: zwischen wahr und unwahr, wichtig und unwichtig und zwischen Sinn und Unsinn. Diese Unterscheidung ist heute, im Social-Media-Tsunami aus Fake News, Propaganda, Entertainment, Influencern, Krawall, Verschwörungen, Hetze und Wahnsinn, noch sehr viel wichtiger geworden als damals, in der gemütlichen Bacher-Ära von FS1 und FS2.

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So schnell vergehen 20 Jahre

Morgen, am 18. Juli, ist es exakt 20 Jahre her, dass ich meine erste ZiB2 moderiert habe. 2.317 Sendungen waren es seither, hat mein Kollege Martin Thür in einer seiner zahllosen Excel-Tabellen entdeckt. Das Foto oben stammt aus meiner ersten.

Dort saß ich eigentlich nur als Urlaubsvertretung – für die damalige Hauptmoderatorin Ingrid Thurnher. Ich durfte im Sommer 2002 probeweise ein paar Sendungen moderieren. Anfang September fiel dann die Entscheidung: Gerald Groß, der im Jahr zuvor dem viel zu früh verstorbenen Robert Hochner nachgefolgt war, und ich würden künftig neben Ingrid, dem Star der Sendung, je drei Mal im Monat die ZiB2 präsentieren. Doch das hielt nur wenige Wochen. Dann überraschte ZiB1-Anchor Josef Broukal Freund und Feind mit seinem Wechsel in die Politik, als Nationalrats-Kandidat der SPÖ und das quasi über Nacht.

Die ZiB1 brauchte dringend einen neuen Moderator, der Job ging an Gerald Groß (heute Medientrainer), ich erbte seine drei ZiB2-Auftritte im Monat und präsentierte die Sendung die nächsten fünf Jahre immer dann, wenn nicht Ingrid im Studio saß. 2007 wechselte sie ebenfalls zur ZiB1 und ich wurde Hauptmoderator. Seither stehe bzw. sitze ich in der Regel drei Mal pro Woche im Studio, außer in Urlaubszeiten immer Montag bis Mittwoch.

ZUFALL ODER UNFALL?

Dass ich vor 20 Jahren überhaupt zu meiner Urlaubsvertretung kam, war ein schräger Zufall. Oder ein ärgerlicher Unfall, wenn es nach Andreas Khol und Peter Westenthaler ginge, den beiden Klubchefs der ersten schwarz-blauen Koalition. Diese ziemlich absurde Geschichte habe ich letzte Woche in einem großen Interview in der ZEIT erzählt, das Puls4-Kollegin Corinna Milborn mit mir geführt hat. Die Fotos dazu hat übrigens der fabelhafte Peter Rigaud gemacht – und er hat mir erlaubt, ein paar davon hier zu zeigen:

In den letzten 20 Jahren habe ich mehr als 3.000 Studiogäste befragt (leider hat Martin in keiner Excel-Tabelle die exakte Zahl) und einige davon sind mir gut in Erinnerung. Oft werde ich ja gefragt, wer denn am schwierigsten zu interviewen ist. Und da gab es schon einige Kandidat·innen: ÖVP-Kanzler Wolfgang Schüssel etwa, weil kaum ein anderer heimischer Politiker derart schnell im Kopf ist und ähnlich redegewandt. Schüssel konnte hochpräzise haarscharf an einer Frage vorbei antworten, aber eben so knapp vorbei, dass es den allermeisten Zuseher·innen nicht auffiel.

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Was lange währt, wird endlich … überprüft

Nun passiert es also doch. Das ORF-Gesetz kommt vor den Verfassungsgerichtshof. Genauer gesagt, jene Teile des Gesetzes, in denen die Bestellung von Stiftungsrat und Publikumsrat geregelt sind. Das Land Burgenland hat heute einen sog. „Antrag auf Normenkontrolle“ beim Höchstgericht beschlossen, also laienhaft gesagt eine Verfassungsklage wegen des zu großen Einflusses der Politik auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Auf insgesamt 44 Seiten wird hier detailliert begründet, weshalb die Bestellung der ORF-Aufsichtsgremien dem Rundfunk-Verfassungsgesetz und der Europäischen Menschenrechtskonvention widerspricht. Kurz gefasst: Weil das Gesetz nicht sicherstellt, dass die ORF-Gremien ausreichend „staats- und regierungsfern“ sind.

Ich teile diese Argumentation weitestgehend – wie ich hier ausführlich erklärt habe – und trotzdem war ich von der Klage überrascht. Der mutmaßlich verfassungswidrige Einfluss „der Politik“ auf den ORF ist nämlich nicht leicht vor das Höchstgericht zu bringen. De facto geht das nur über ein solches „Normenkontroll“-Verfahren. Dafür braucht es aber ein Drittel des Nationalrats oder den Beschluss einer Landesregierung. Es kann also nur die Politik selbst ihren eigenen Einfluss auf den ORF juristisch bekämpfen. Gelernte Österreicher·innen wissen: Nicht sehr wahrscheinlich.

Nun hat die burgenländische Landesregierung relativ wenig Macht im ORF-Stiftungsrat (sie darf eines von 35 Mitgliedern bestellen), aber Landeshauptmann Doskozil ist auch ein gewichtiger und machtbewusster SPÖ-Politiker. Und wann und wo immer die SPÖ bisher in einer Regierung saß, störte sie ihr Einfluss auf den ORF keineswegs. Das räumt auch Doskozil ein: „Natürlich hat es auch in der Vergangenheit immer wieder Versuche der politischen Einflussnahme gegeben – niemand ist so blauäugig, das zu bestreiten.“ (Doskozils Vorgänger Hans Niessl etwa hat einst mit Nachdruck am Abgang des langjährigen ORF-Landesdirektors Karlheinz Papst arbeiten lassen. Doskozil selbst war letztes Jahr mit seinem Wunsch nach einem neuen Landesdirektor weniger erfolgreich.)

Als Oppositionspartei ist die SPÖ im Bund derzeit relativ machtlos (auch in den ORF-Gremien), aber sie kann ja durchaus auf eine Rückkehr an die Regierung irgendwann hoffen, möglicherweise sogar als stärkste Partei. Sollte jedoch der Antrag des Landeshauptmanns vor dem Höchstgericht durchgehen, wird das Ergebnis auch die Macht seiner eigenen Partei in künftigen ORF-Gremien begrenzen.

Deshalb hatte ich nicht damit gerechnet, dass es zu einer solchen Verfassungsklage kommen würde. Doskozil begründet sie mit den kürzlich bekannt gewordenen türkis-blauen und türkis-grünen „Sideletters“ zum ORF, die gezeigt hätten, „dass zuletzt Grenzüberschreitungen üblich wurden, die demokratiepolitisch und verfassungsrechtlich schwer bedenklich, aber durch das ORF-Gesetz gedeckt sind“.

Nun ist die Klage jedenfalls da. Das Verfassungsgericht muss das ORF-Gesetz überprüfen. Und das wird hochspannend.

WIE STEHEN DIE CHANCEN?

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Lobende Worte

Vor einigen Tagen wurde ich – gemeinsam mit „Falter“-Chefredakteur Florian Klenk – als „Journalist des Jahres“ ausgezeichnet. Gemeinsam, weil Klenk von der Jury der Fachzeitschrift „Österreichs Journalist:in“ für das Jahr 2021 ausgewählt wurde und ich für 2020. Wegen der Pandemie fand die Preisverleihung erst jetzt für beide Jahre statt.

Die Laudatio hat eine Kollegin gehalten, die wir beide außerordentlich schätzen: Die brillante Österreich- und Mittelosteuropa-Korrespondentin der „Süddeutschen Zeitung“ Cathrin Kahlweit. Sie hat mir erlaubt, ihre freundlichen Worte hier zu veröffentlichen.


Lieber  Armin, lieber Florian, liebe Anwesende,

kaum macht Covid mal eine kurze Pause, machen wir, was wir geschworen hatten, nie wieder zu tun. Mittelstreckenflüge antreten, große Parties feiern, durch den Alltag hekten, im Büro die Zeit mit sinnfreien Konferenzen verschwenden. Aber wir nutzen die Zeit zum Glück auch für Dinge, die zu kurz gekommen sind beziehungsweise aufgeschoben wurden. Dazu gehört, Florian Klenk und Armin Wolf dafür zu ehren, dass sie die Journalisten des Jahres 2020 und 2021 sind.

Ich hatte eine Weile überlegt, ob es zulässig ist, beide Männer in einer Laudatio zu würdigen. Beide habe ja schließlich jeweils eine eigene, epische Schilderung der Gründe verdient, warum sie zu den besten Journalisten gehören, die dieses Land hat.

Warum das Publikum sie liebt. Und warum die Politiker dieses Landes sie nicht immer lieben. Was sich bisweilen bedingt.

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Die Publikumsräte, die es nicht geben dürfte

Der ORF hat neben dem mächtigen Stiftungsrat noch ein zweites Aufsichtsgremium, den Publikumsrat, der laut ORF-Gesetz für die „Wahrung der Interessen der Hörer und Seher“ zuständig ist. Dem Publikumsrat gehören dreißig Personen an, 17 davon kann Medienministerin Susanne Raab nahezu freihändig auswählen und das hat sie letzte Woche getan: die Mehrheit davon allerdings gegen die Vorschriften des ORF-Gesetzes – sagt einer der renommiertesten Rundfunkjuristen im Land.

Hans Peter Lehofer ist Richter am Verwaltungsgerichtshof, war mal Vorsitzender der Rundfunkbehörde KommAustria und er betreibt einen höchst lesenswerten Blog zum Thema Medien und Recht. In seinem neuesten Text hat er sich die Neubestellung des ORF-Publikumsrats näher angesehen. (Davor hat er auch schon dazu getwittert.) Und dabei sind ihm einige sehr seltsame Dinge aufgefallen.

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Der Erklärer

Gestern wurden in Wien die renommierten Concordia-Preise verliehen: In der Kategorie „Menschenrechte“ an die großartige PROFIL-Journalistin Christa Zöchling und in der Kategorie „Pressefreiheit“ an meinen wunderbaren ZiB2-Kollegen Martin Thür (hier gibt es Martins hervorragende Dankesrede zum Nachlesen – und alle Ansprachen von gestern zum Nachsehen).

Für sein Lebenswerk wurde der große Paul Lendvai ausgezeichnet. Ich durfte ihn aus diesem Anlass würdigen. Meine Laudatio und Lendvais Dankesworte hier zum Nachlesen:


Ich muss ja gestehen, dass ich durchaus überrascht war, als mich Paul Lendvai vor einigen Wochen gefragt hat, ob ich die Laudatio auf ihn heute halten würde. Freudig überrascht, weil das natürlich für mich die weit größere Auszeichnung ist als für ihn. Überrascht aber auch, weil ich mir dachte: Wie oft kann man eigentlich den Concordia-Preis fürs Lebenswerk kriegen? Ich war nämlich ganz sicher, dass Paul Lendvai den schon hat. Und zwar schon länger.

Ich meine: Der Mann hat 1974 den Renner-Preis bekommen (der damals noch was wert war) und das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik. 1974, da waren sich die Eltern von Martin Thür noch fünf Jahre lang nicht mal begegnet. Und Paul Lendvai war bereits ein sehr berühmter Journalist. Aber da war noch nichtmal Halbzeit bei ihm.

Seither wurde ihm – völlig zu Recht – praktisch jeder Preis, Titel und Orden verliehen, den dieses Land für Menschen aus unserem Gewerbe zur Verfügung hat, vom Professor über den Staatspreis für Kulturpublizistik oder den Ehrenpreis des Buchhandels bis zum Horst-Knapp-Preis für Wirtschaftsjournalismus. Mutmaßlich ist er der einzige Mensch, der den Bruno-Kreisky- und den Alois-Mock-Preis bekommen hat. Dazu noch Ehrungen in Deutschland, Polen, natürlich in Ungarn (immer dann, wenn Orban gerade mal nicht Regierungschef war). Und 2019 wurde er auch noch „Europäer des Jahres“.

Mit dem heutigen Tag ist er endgültig “ausdekoriert” – nur den Paul-Lendvai-Preis hat er noch nicht. Der wurde tatsächlich vor wenigen Wochen erstmals vergeben, bescheidenerweise aber nicht an ihn.

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„Die Überlegungen Wolfs vernachlässigen daher…“

Mein jüngster Blog-Beitrag über die Bestellung des ORF-Stiftungsrats hat in der letzten Sitzung des Gremiums und im Kanzleramt einige Aufregung ausgelöst. Etliche Stiftungsräte fühlten sich, so wird erzählt, durchaus persönlich angegriffen. Dabei ging es in meinem Text ausschließlich darum, dass ich die Gesetzesbestimmung, mit der sie bestellt wurden, für problematisch halte; konkret für offenkundig verfassungswidrig, wenn man einem Kommentar von Christoph Grabenwarter folgt, dem Präsidenten des Verfassungsgerichts.

Eine „Fehlinterpretation“ nannte das Klaus Poier, Stiftungsrat des Landes Steiermark und hauptberuflich Verfassungsjurist. Und Medienministerin Susanne Raab forderte vom Verfassungsdienst im Kanzleramt eine eigene Stellungnahme zu meinem Blog-Beitrag an.

Freundlicherweise hat mir Kanzler-Sprecher Daniel Kosak diese Stellungnahme auf meine Anfrage zur Verfügung gestellt – mit der Genehmigung, die wesentlichen Passagen im Sinne einer offenen Debatte hier zu veröffentlichen. Und das meint der Verfassungsdienst in seiner „Information für die Bundesministerin“ vom 16. März (Hervorhebungen im Original):

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Verfassungswidrig – na, und?

Am Donnerstag dieser Woche, am 17. März, treffen sich die 35 ORF-Stiftungsräte noch ein letztes Mal. Ihre vierjährige Funktionsperiode läuft aus, der Stiftungsrat wird bis Mai neu bestellt. Nach einer Gesetzesbestimmung, die offensichtlich gegen die Verfassung verstößt.

Ich weiß das erst seit wenigen Tagen, seit ich auf einen Aufsatz von Christoph Grabenwarter gestoßen bin, dem Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs. Grabenwarter ist auch ein renommierter Experte für Rundfunkrecht und als solcher hat er in einem Standardwerk zum deutschen Grundgesetz einen Kommentar über „Rundfunkfreiheit“ geschrieben.*

In der umfangreichen Analyse geht es grundsätzlich um Deutschland, wo das Höchstgericht 2014 in einem historischen Urteil die „Staatsferne“ von ARD und ZDF festgeschrieben hat. Aber Grabenwarter behandelt auch die Rundfunkfreiheit in der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Gemäß Artikel 10 der EMRK müsse die „Vielfalt im Rundfunk“ gewährleistet sein, erklärt er. Deshalb sei zu verhindern, dass „eine gewichtige ökonomische oder politische Gruppe oder der Staat eine dominante Position über eine Rundfunkanstalt … einnimmt“. Und konkret schreibt Grabenwarter über die Leitungs- und Aufsichtsorgane der Sender: „Herrscht in den Organen eine zu große Mehrheit von Vertretern der Regierungspartei(en), wird Art. 10 EMRK verletzt.“ (S. 240, siehe unten.)

Die EMRK ist in Österreich Teil der Verfassung. Und im ORF-Stiftungsrat gibt es – wie ich gleich zeigen werde – genau das: Eine quasi automatische Mehrheit von Vertretern der Regierungsparteien.

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„Was ist im Krieg erlaubt, Herr Janik?“

Diese Woche habe ich für die ZiB2 ein ungewöhnlich ausführliches Interview mit dem Wiener Völkerrechts-Experten Ralph Janik über den Krieg in der Ukraine geführt: Ob der russische Überfall Wladimir Putin automatisch zum Kriegsverbrecher macht und ob er dafür irgendwann vor Gericht muss? Was überhaupt Kriegsverbrechen sind? Wie man Verstöße gegen das Kriegsrecht verhindern kann? Und wir haben auch sehr detailliert über die österreichische Neutralität gesprochen – und was sie konkret in diesem Krieg und auch grundsätzlich bedeutet. Und auch darüber, ob und wie man sie wieder abschaffen könnte.

Es gibt von diesem Interview eine ca. sechs Minuten lange Version, die wir in der ZiB2 gesendet haben. Und eben eine Langfassung von knapp 27 Minuten, die sie hier sehen oder hier hören können. Oder nachfolgend lesen:


Herr Dr. Janik, das was wir da in den letzten Tagen in der Ukraine sehen, in Städten wie Charkiw, Kiew, Mariupol – immer mehr Angriffe auf zivile Ziele – da sagt der britische Premierminister, das seien Kriegsverbrechen. Ist das so?

Ja, das lässt sich relativ leicht herunterdeklinieren. Grundsätzlich greift hier das humanitäre Völkerrecht und einer der zwei Grundsätze, die hier zur Anwendung kommen, ist das Prinzip der Unterscheidung. Man darf Zivilisten und zivile Objekte nicht direkt angreifen und solche Angriffe fallen auch unter die Definition eines Kriegsverbrechens.

Vielleicht einmal grundsätzlich von Anfang an: Diese russische Invasion in der Ukraine selbst ist eindeutig völkerrechtswidrig, oder?

Ja, auch das ist rechtlich ganz leicht herunterzudeklinieren. Wir haben ein Interventionsverbot, wir haben ein Verbot von Krieg, wir haben ein Verbot von direkter und indirekter Gewalt. Und gegen all diese fundamentalen Regeln des Völkerrechts verstößt Russland hier, weil keine der Ausnahmen greift. Also weder hat die Ukraine Herrn Putin dazu eingeladen auf ukrainischem Territorium gegen die Ukraine vorzugehen, das wäre ja auch absurd, noch gibt es eine Resolution des UNO-Sicherheitsrats und es ist auch kein Fall von Selbstverteidigung. Also, weder können die sogenannten Volksrepubliken, die ja keine unabhängigen Staaten sind, eine solche Einladung aussprechen, noch ist es der Fall, dass Russland von der Ukraine angegriffen worden wäre. Man muss ja kein Militärstratege sein, um zu wissen, dass ein Angriff auf Russland keine besonders gute Idee wäre.

Dieser Krieg selbst ist völkerrechtswidrig, aber gilt dann trotzdem innerhalb eines rechtswidrigen Krieges das Kriegsrecht?

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„Ist Putin noch rational, Herr Krastev?“

Kaum ein Experte weiß so viel über Wladimir Putin wie der bulgarische Politologe Ivan Krastev, der seit vielen Jahren in Wien am IWM, dem Institut für die Wissenschaft vom Menschen, arbeitet. Krastev hat in den letzten Jahren mehrere sehr lesenswerte Bestseller geschrieben, er kommentiert regelmäßig in der New York Times die internationale Politik und berät Spitzenpolitiker·innen in ganz Europa.

Vergangenen Montag, vier Tage nach dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine, habe ich für die ZiB2 mit Ivan Krastev gesprochen. Und weil es auf das Gespräch (hier die englische Originalfassung) extrem viele positive Reaktionen gab, habe ich es zum Nachlesen transkribiert:


Herr Krastev, viele Beobachter sind ziemlich überrascht, dass die russische Armee bisher nicht in der Lage war, die Ukraine quasi zu überrennen, Kiew zu erobern und den Widerstand der ukrainischen Armee zu brechen. Sie auch?

Ja, ich war überrascht, weil es viele Vorhersagen gegeben hat, auch von den amerikanischen Geheimdiensten, dass die Russen das können. Aber in Wahrheit ist die Überraschung für uns vielleicht kleiner als für die russische Führung. Eine der übelsten Dinge in der Politik ist es, wenn man zum Opfer der eigenen Propaganda wird. Und das ist meiner Meinung nach der russischen Führung in diesem Fall passiert. Sie hat wirklich geglaubt, dass die Ukrainer sie als Befreier erwarten würden und sie mussten feststellen, dass sie als Besetzer begrüßt worden sind.

Was war oder was ist Wladimir Putins Ziel mit diesem Krieg? Was will er erreichen?

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Armin Wolf ist Journalist und TV-Moderator. Sein Blog befasst sich v.a. mit Medien und Politik.

Armin Wolf