Vor knapp dreißig Jahren hat der amerikanische Medientheoretiker Joshua Meyrowitz eines der bis heute zentralen Bücher über das Fernsehen geschrieben. Unter dem Titel „Die Fernseh-Gesellschaft“ ist es 1987 auch auf Deutsch erschienen. Ein großes Kapitel widmet Meyrowitz darin der Frage, was das Fernsehen (schon damals) mit unserem Bild von Politikern macht.
Dieses Buch fiel mir in den letzten Tagen immer wieder ein, während der vielen Wahl-Konfrontationen, die von einem riesigen Publikum gesehen werden. 3,45 Millionen Österreicher haben zumindest in eines der bisher zwölf TV-Duelle hineingeschaut, das sind 47 % der Wahlberechtigten. Im Schnitt hatte jede Konfrontation durchgehend 741.000 Seher, die meisten waren es bei Spindelegger-Strache (841.000) und Faymann-Strache (838.000).
Dazu kommen noch unzählige Abrufe via TVthek: 2,45 Millionen waren es bis Mittwoch Abend, die meisten für die ersten beiden Runden, also Glawischnig-Strache (433.000) und Bucher-Stronach (320.000). Und mit jeder Konfrontation, mit jedem Interview, mit jeder „Wahlfahrt“ lernen wir die Männer und die Frau, die uns die nächsten fünf Jahre mit ihren Parteien regieren wollen, besser kennen, können beobachten, wie sie agieren, hören, wie sie argumentieren, und erfahren mehr über ihre Pläne.
Der „erniedrigte“ Politiker
Warum ist mir nun aber Joshua Meyrowitz eingefallen? Wegen der folgenden Zitate aus dem Kapitel „Der politische Held wird vom Sockel gestoßen“:
„Es herrscht kein Mangel an potentiellen Führungsfiguren, vielmehr ein Übermaß an Information über sie. Das Image des ‚großen Führers‘ hängt von Mystifikationen ab und davon, dass der öffentliche Eindruck dieses Politikers sorgfältig kontrolliert wird. Durch das Fernsehen sehen wir zu viel von unseren Politikern, und sie verlieren die Kontrolle über ihre Image und ihren Auftritt. […] Die Redner-Tribüne erhob früher einen Politiker über die Menge – wörtlich wie symbolisch. Jetzt bringt die Kamera den Politiker so nahe, dass die Menschen ihn genau beobachten können. Und in diesem Sinn erniedrigt sie den Politiker auf das Niveau seines Publikums.“
Entlarvung vs. Mystifikation
Und Meyrowitz weiter: „Es gibt heute ein Verlangen nach zwei Dingen: vollkommen ‚offene‘ Regierungen und starke Führerpersönlichkeiten. Selten ziehen wir in Betracht, dass beide Forderungen leider nicht miteinander zu vereinbaren sind. Wir wollen unsere Führer ständig beobachten und gleichzeitig wollen wir, dass sie uns inspirieren. Wir können nicht beides haben – sowohl Entlarvung als auch Mystifikation, die doch so nötig ist, um ein Image von ‚Größe‘ entstehen zu lassen.“
Das stimmt wohl. Heldenfiguren brauchen eine Aura. Eine solche Aura hält jedoch der Dauerbeobachtung in Nahaufnahme nur selten stand. Manche Spitzenkandidaten spüren das in diesen Wochen ganz besonders.
Aber sollen wir deswegen die Menschen, die das Land führen wollen, weniger genau beobachten? Damit wir sie leichter bewundern und verehren können? Vielleicht müssen wir ja unsere Anforderungen an Politiker überdenken? Vielleicht erwarten wir zu viel?
Den Wunsch nach der „großen“ Vater- oder Mutterfigur, zu der wir aufschauen können und die uns all unsere Probleme abnimmt, – den würden Psychologen ohnehin ziemlich infantil nennen.
Dieser Text ist ursprünglich im ORF-Wahlblog zur Nationalratswahl 2013 erschienen.