Der Erzähler

Jetzt hat er sich also zum ersten Mal geäußert und das auch gleich sehr ausführlich – Claas Relotius, der vor zweieinhalb Jahren den größten deutschen Medienskandal seit den gefälschten „Hitler-Tagebüchern“ im STERN ausgelöst hat. Der gefeierte SPIEGEL-Jungstar hatte über Jahre hinweg seine vielfach preisgekrönten Reportagen großteils erfunden. Und nicht nur diese, sondern offenbar auch nahezu alles andere, das er je veröffentlicht hat, wie er jetzt dem Schweizer Magazin REPORTAGEN in seinem ersten Interview seit dem Skandal erzählt:

Insgesamt haben Sie 120 Texte verfasst, grössere und kleinere. Wie viele davon waren journalistisch korrekt?
Nach allem, was ich heute über mich weiss, wahrscheinlich die allerwenigsten. Bei einigen Texten kann ich es einfach nicht sicher sagen.

Auf insgesamt neunzig Fragen erklärt Relotius, warum er gefälscht, erfunden und gelogen hat. Letztlich gibt er aber immer wieder die gleiche Antwort: Er hätte seit seiner Jugend an psychotischen Zuständen gelitten, an Wahnvorstellungen und zeitweise völligem Realitätsverlust – und sein einziger Ausweg sei das Schreiben gewesen:

Es hat mir geholfen, Zustände, in denen ich den Bezug zur Realität verloren habe, zu bewältigen, zu kontrollieren und von mir fernzuhalten. Schon lange vor dem Journalismus. Ich habe diesen Beruf auf eine Art von Anfang an missbraucht. … Ich kann das nicht erklären, aber ich hatte jahrelang nie Angst, nie Zweifel, auch nie ein schlechtes Gewissen.

Auch wenn der 35jährige an mehreren Stellen im Interview in verschiedenen Worten eingesteht:

Es gibt keine notwendige Verbindung zwischen einer psychischen Störung und dem Schreiben der Unwahrheit in einem Nachrichtenmagazin. Viele Menschen haben seelische Probleme. Man muss deswegen keinen Medienskandal verursachen. … Ich hatte beim Schreiben nie niederträchtige Absichten, und ich wollte auch niemanden verletzen, indem ich etwas Falsches schreibe. Dass ich das getan habe, bereue ich am meisten.

Und trotzdem ist dieses Interview mindestens so enttäuschend wie es lang ist. Aber das war wohl auch zu erwarten.

Claas Relotius ist – oder war zumindest – ein professioneller Lügner.

Jedenfalls hat er jahrelang so seinen Lebensunterhalt verdient. Ein immens begabter Hochstapler, der sich für frei erfundene „Reportagen“ bezahlen ließ, damit eine eindrucksvolle Karriere machte und sich alle paar Monate von seinen Kolleg·innen für seine erlogenen Geschichten öffentlich auszeichnen und feiern ließ.

Jetzt erzählt Relotius wieder eine Geschichte. Sie könnte natürlich stimmen. Aber wie so viele seiner Geschichten ist auch diese auffällig durchkomponiert, scheinbar stimmig, hoch emotional und mitleiderregend, aber auch mit der nötigen Portion Einsicht und Selbstkritik versehen.

EIN OPFER OHNE ANDEREN AUSWEG

Doch trotz der mehrfachen Entschuldigungen, der vermeintlichen Selbsterkenntnis und Offenheit bleibt es eine Geschichte über ein Opfer. Über einen Mann, der von einer mysteriösen Krankheit wie von einer dunklen Macht getrieben war und keinen anderen Ausweg sah. Und obwohl Relotius über seinen eigenen Zustand und sein Handeln noch immer so vieles angeblich nicht weiß oder verstehen kann, erhebt er auffällig konkrete, detaillierte und vor allem schwere Vorwürfe gegen Juan Moreno, jenen SPIEGEL-Reporter, der seine Lügen aufgedeckt und darüber ein lesenswertes Buch geschrieben hat.

Ich kenne Claas Relotius nicht und ich bin auch kein Psychiater. Aber als Journalist scheint es mir logischer und plausibler, dass ein Mann, der seine komplexen Lügenkonstrukte bis zum allerletzten Moment aufwändig verschleiert und skrupellos bestritten hat, hier wieder eine Geschichte konstruiert – so wie er jahrelang seine „Reportagen“ konstruierte:

Ich habe in der unverrückbaren Überzeugung geschrieben, es würde bei der Erzählform Reportage keinen Unterschied machen, ob alles 1:1 der Realität entspricht oder nicht. Als seien Reportagen ohnehin nie Tatsachenberichte, sondern immer Geschichten, also verdichtete, konstruierte Wirklichkeiten.

Die beiden erfahrenen Interviewer·innen – der Chefredakteur von REPORTAGEN und die Schweizer Journalismus-Legende Margrit Sprecher – hinterfragen manche Antworten durchaus, sie haben auch mit den Ärzten von Relotius gesprochen und Befunde gelesen. Über viele Monate hinweg waren sie mit ihm in Kontakt und haben ihn mehrfach getroffen. Das war wohl die einzige Möglichkeit, dieses Interview, hinter dem zahllose Medien seit zweieinhalb Jahren her waren, zu bekommen.

EMBEDDED JOURNALISM?

Trotzdem liest es sich wie ein Stück embedded journalism. Ich schätze beide Kolleg·innen extrem, aber in diesem Interview finde ich sie zu verständnisvoll, zu wenig skeptisch und dem Interviewten zu nahe. (Relotius hat eines seiner ersten großen preisgekrönten Stücke für REPORTAGEN geschrieben, Chefredakteur Daniel Puntas Bernet war einer der Entdecker des vermeintlichen Jahrhundert-Talents und einer seiner Förderer. Allerdings hatte Relotius auch ihn betrogen.)

Ich hätte mir vor allem noch zwei Fragen gewünscht:

Sie können schreiben, Sie können Geschichten erzählen, Sie können Leser·innen fesseln. Wenn Schreiben tatsächlich Ihre einzig mögliche Therapie war – warum wollten Sie dann unbedingt Journalist werden und nicht Schriftsteller? Sie hätten auch schreiben und davon leben können, ohne ständig zu betrügen.

Und die zweite, noch näherliegende Frage:

Sie haben jahrelang Ihre Familie angelogen, Ihre Freunde, Ihre Kolleg·innen, Ihre Arbeitgeber, Ihr Publikum und auch uns – warum sollte irgendwer irgendwas von dem glauben, was Sie uns heute erzählen?

Immerhin gibt es im Gespräch eine ähnliche Frage, mit einer sehr knappen – leider nicht weiter besprochenen – Antwort:

Verstehen Sie, dass wir Schwierigkeiten haben, Ihnen zu glauben?
Ja. 

Denkbar wäre es natürlich, dass Relotius diesmal nicht gelogen hat – und trotzdem nicht die Wahrheit sagt. Irgendwo in dem Interview schildert er eine rührende Episode, wie er auf einer Dienstreise ins irakische Kriegsgebiet 4.500 Euro von seinem Spesenkonto einer Flüchtlingsfamilie schenken wollte, die dann aber nie am vereinbarten Treffpunkt eingetroffen sei. Die Anekdote endet mit dem Satz:

Es kann auch sein, dass alles ganz anders war und ich mir Teile davon nur eingebildet habe.

Ja, so könnte es auch sein.


Das gesamte Interview kann auf der REPORTAGEN-Website gelesen werden, notwendig ist nur eine kurze Registrierung per E-Mail.

(Offenlegung: Chefredakteur Daniel Puntas Bernet ist auch der Gründer des internationalen Journalismus-Preises True Story Award, dessen Advisory Board ich angehöre.)


NACHTRAG vom 6.6.2021: Im Podcast der – immer interessanten – Medien-Website ÜBERMEDIEN ist ein ausführliches Interview mit Daniel Puntas Bernet über sein Gespräch mit Relotius und die Kritik daran zu hören.